The White Face:

Ob Sie es glauben oder nicht (Teil 1)



Baella: Da war es wieder. Dieses merkwürdige Gefühl. Ein Phänomen, das die Physiker mit "Resonanz" bezeichnen. In Begegnungen mit multiidentischen Persönlichkeiten widerfährt es mir immer wieder, nur dass es diesmal sehr viel heftiger war. Ein Blitz durchfuhr mich von oben bis unten - oder war es umgekehrt? Ich spürte, wie meine Frisur ihre Form verlor während der Boden unter mir zu beben begann.

Wieder einmal war ich unterwegs durch den Berliner Untergrund. Wieder einmal suchte ich nach einer außergewöhnlichen Begegnung der multiidentischen Art, nur dass ich diesmal einem konkreten Hinweis folgte, den mir Monsieur Guillaume Le Trouve-Dusson persönlich gegeben hatte. "Reisen Sie nach Spandau", lautete die lapidare Anweisung, "und steigen Sie um des Himmels willen vorher nirgends aus oder um". Was also lag näher als die U7 zu nehmen, da ich mich in Neukölln aufhielt.



Berlin ist bekannt für seinen Untergrund. Nicht nur Rathäuser sind untereinander verbunden. Reisende aus aller Welt kommen insgeheim nur deshalb hierher, weil sie die Stadt für so "sophisticated undergroundy" halten, wie mir erst neulich wieder jemand mit einem bedeutsamen Augenzwinkern erzählte. Auf meiner Fahrt mit der U7 nach Spandau veranlasste mich diese Bemerkung, noch einmal über alle meine Begegnungen nachzudenken, die ich bei meinen Reisen durch den Untergrund in den vergangenen zwei Jahren mit multiidentischen Persönlichkeiten hatte. Wie alles begann, auf meiner U-Bahn Fahrt mit Frau Gras, und wie ich angeregt durch dieses Gespräch dann wenig später Diane Torr traf.
Eine Reise mit der U7 von Herrmannplatz nach Spandau ist lang. Und da mir immer noch niemand begegnete, fiel mir auch SHEva ein, von der ich hoffe, dass sie inzwischen ihren Parkplatz gefunden hat. Ich dachte an die Tobi und das queerEruption und musste kurz vor Ankunft "Spandau Altstadt" über meine alte Freundin Irmgard schmunzeln, mit der ich zuletzt in Ruhleben noch einen Kaffee zu mir genommen hatte - auf einer anderen Linie.

Da plötzlich wurde ich gewahr, dass meine Reise fast zu Ende war. Nur noch eine Station trennte mich vom Endbahnhof und bisher war mir niemand aufgefallen. Hatte Monsieur mich auf eine falsche Fährte gesetzt? Oder hatte ich die falsche U-Bahn zur falschen Zeit genommen? Als sich die Türen das letzte Mal schlossen musste ich sogar feststellen, dass ich im Wagen allein war, eine Begegnung also nur noch mit mir selbst stattfinden konnte.

Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht aber auch ein ganz anderer, an den ich mich heute nicht mehr erinnere. Was jetzt geschah, meine Lieben, entzieht sich meiner eigenen Urteilskraft. Halten Sie mich also für verrückt oder konsultieren Sie Ihren Psychiater. Als die U-Bahn in die Endstation einfuhr - Einheimischen sei gesagt, dass es "Rathaus Spandau" war, aber das trägt nichts zur Sache bei - musste ich mit Schrecken feststellen, dass der Zug anstatt zu bremsen mit einem Affenzahn beschleunigte. Ich konnte draußen gerade noch diese neumodernen Laternen des Bahnhos erkennen, als es plötzlich blitzte, so grell wie von tausend Sonnen.



Dann rasten wir in die Dunkelheit. Für einen Bruchteil von Sekunden dachte ich an einen Kurzschluss. Mehrere Tausend Volt Gleichspannung sind ja kein Pappenstiel. Dann schoss es mir durch den Sinn, vielleicht einem Terroranschlag entkommen zu sein. Sicher hatte der U-Bahn-Fahrer noch rechtzeitg einen Hinweis erhalten und war voll durchgestartet. Aber wohin fuhren wir? Die Strecke war doch zu Ende!

Sie können es mir glauben oder auch nicht. Für einen kurzen Moment musste ich das Bewusstsein verloren haben, denn als ich meine Augen vorsichtig wieder öffnete, war es im Waggon merkwürdig dunkel, obwohl die Lampen noch alle brannten. Wir fuhren immer noch. "Wir?" wie kam ich auf "wir"? Ich war doch allein. Langsam stieg in mir ein Gefühl von Panik auf. Lebte ich überhaupt noch? Oder war ich am Ende blind geworden?

Langsam versuchte ich aufzustehen. Während ich mich noch ganz benommen an den Haltestangen hochzog versuchten sich meine Augen, an diese unheimliche Dunkelheit zu gewöhnen. Das Kreischen der Räder ließ darauf schließen, dass wir in eine Kurve getragen wurden, obwohl ich nichts von der Schwerkraft spürte. Stattdessen registrierte ich unmittelbar vor mir und in der Tiefe des Wageninnern leicht schimmernde Ballons, die sich mal heller mal dunkler werdend vor mir auf und abbewegten. Ihre Schönheit beruhigte mich sofort. Sie waren wie tanzende Glühwürmchen in einer lauen, süß duftenden Sommernacht und als ich die Lichter zu fangen versuchte, hörte ich ein Lachen, das mit dem Rhythmus der Fahrgeräusche zu Musik anschwoll.



"Mit Liebe, Licht, Lust und Latex" hörte ich es plötzlich neben mir, als ich einen dieser kleinen leuchtenden Ballons tatsächlich gefangen hatte. Sie werden es kaum für möglich halten, aber es war ein kleines glitschiges Stück Gummi, das ich da in der Hand hielt, ein Kondom, es war eine Party, auf der ich tanzte und die Stimme, die mich ansprach, kam aus einem weißen Gesicht, das mich freundlich anlächelte. Ja, so war sie, meine erste Begegnung mit dem White Face. Inmitten eines Meeres aus tanzenden und schwitzenden Körpern. Auf einer Fahrt durch den Untergrund zwischen Spandau und Irgendwo. Eine Begegnung, die sich im übrigen noch vertiefen sollte, denn aufgrund dieser heftigen Erscheinungen, die mir eben noch widerfahren waren, wollte ich jetzt natürlich genauer wissen, was sich dahinter verbarg.

"Das sind diese komischen Schwestern", rief mir mein Tanzpartner zu, "die verteilen immer Kondome, im Nonnenfummel. Lustige Idee, bisschen gaga, aber echt liebenswert". Hätte ich ihm erklären können, was mir da eben noch widerfahren war? Er hätte bestimmt gesagt: "Onan, Du spinnst, Du bist auf Droge." Also nahm ich lächelnd das Kondom entgegen, warf meinem tanzenden Freund einen süssen Blick zu und meinen Obulus in die Spendenbüchse. Die Untergrundfahrt ging ja weiter. Dass sie erst viele Wochen später wieder am Herrmannplatz endete, trägt eigentlich nichts zur Sache bei, außer, dass ich beim Aufstieg an die Oberfläche dieser Stadt die tiefe Gewissheit hatte, mit dem White Face auch realen Menschen begegnet zu sein.

Wie es zu diesen Begegnungen und ihren teils merkwürdigen Erscheinungen kam und was alles dahinter steckt, läßt sich in wenigen Sätzen nur schwer beschreiben. Auch kann ich noch nicht erklären, wer überhaupt diese Aufnahmen machte, die ich sehr viel später in meinem Briefkasten fand. Ich gebe zu, dass sie der eigentliche Anlass meines Berichtes sind. Ein untrüglicher Beweis nämlich dafür, dass es weder ein Kurzschluss noch ein Terroranschlag war, der uns über das Ziel hinaus katapultierte. Wahrscheinlich eine Kollision mit dem Unscheinbaren. Die Lichterscheinung auf dem Bahnsteig jedenfalls könnte darauf schließen lassen.



Immerhin, ich hatte den Beweis noch in der Hand. Das Kondom. Die Schnittstelle zwischen Realität und Illusion. Über sie konnte es mir gelingen, meine Nachforschungen im Untergrund fortzusetzen. Langsam begann ich daran zu reiben.