Weihnachten ist vorbei, bis vor kurzem wurden hier noch Bücher besprochen. Ich als stellvertretende Kulturhausleiterin, die Stelle ist eigentlich noch zu besetzen, stellte die Bücher ins Verkaufsregal zurück, und holte mir den nicht nur in Cannes preisgekrönten iranischen Film "Reise nach Kandahar" ins Haus. Der Streifen bekommt anlässlich seines deutschen Kinostarts am 03.01.2002 zusätzliche "Werbehilfe". Der amerikanische Fersehsender ABC vermeldete am letzten Tag im letzten Jahr, einer der Hauptdarsteller sei ein lang gesuchter Terrorist. Vor mehr als 20 Jahren soll er den ehemaligen Sprecher der iranischen Botschaft, Ali Akbar Tabatabai, in einem Vorort von Washington ermordet haben.

Der Kinostreifen, der erst nach dem 11.September 2001 wirklich berühmt wurde, erzählt die Geschichte der Journalistin Nafas (Nelofer Pazira), die im kanadischen Exil einen Hilferuf ihrer jüngeren Schwester erhält. Daraufhin kehrt sie nach Afghanistan zurück. Ihre Suche führt sie von der iranisch-afghanischen Grenze ins Reich der Taliban...
Ihre stellvertretende Kulturhausleiterin


"Reise nach Kandahar"
(seit 3.1. im Kulturhausprojektor)

Sich auf eine Reise ins Land der schwarzen Turbane zu begeben ist wie ins Ungewisse zu springen. Es ist eine Reise ins Irrationale, ins Unverständliche. Es kommt einem so vor, als ob man beim Überqueren der afghanischen Grenze den Verstand aufgeben müsste. Das Afghanistan, das Mohsen Makhmalbaf (Regie) zeigt ist keine Fälschung: Es ist einen Abstieg in die Dunkelheit, eine Expedition in eine andere Welt, eine Welt von einer anderen Zeit, wo die manchmal magische Parabel die traurige Wirklichkeit hervorhebt. Nafas, eine afghanische Frau, die sich in Kanada niedergelassen hat, kehrt in ihr Land zurück, um ihre Schwester zu retten, die droht, sich vor der nächsten Sonnenfinsternis das Leben zu nehmen.

Auf dem Weg, in den Dörfern, den Weilern, auf den staubigen Strassen, spricht Nafas ihren Reisebericht auf Band. Wir folgen unserem Erzähler auf diesem Feldzug in das Reich der Verrücktheit, auf ihrem Weg nach Kandahar, die heilige Stadt und Geburtsstätte von Gottes Narren. Alles im Film ist gesegnet: Gesang, Musik, Video, Fotografie, Malerei, jedes Bild des Menschen. Man trifft Kinder in einer madras, einer Koranschule, Tutoren eines radikalen Dogmas, eine Armee von Krüppeln aus den Kriegszeiten, Jahre des Wahnsinns. Auf den sandigen Hügeln und windverwehten Dünen trifft man auch auf das Gespenst Pasolinis mit Bildern aus "Tausend und einer Nacht". Doch es ist "Tausend und einer Nacht" mit einer Todesbotschaft!



Ein Orient, der bis anhin in bezug auf seinen Paroxysmus und seiner tödlichen Spirale, seinem suizidalen Drang unbekannt ist. Als die Taliban im September 1996 in Kabul an die Macht kamen, versprachen sie eine Herrschaft der Reinheit. Für eine Weile applaudierten die Kabulis, zufrieden zu sehen, dass Schwindler und andere kleine Banditen - high von Haschisch - vor den Mullahs flüchteten. Doch bald verloren die Afghanen ihre Illusionen. Taleb heisst Theologiestudent. Diese Studenten, oft Analphabeten, wurden zu den schlimmsten vorstellbaren Feinden der Kultur, vor allem der afghanischen Kultur, die Toleranz und Gastfreundschaft stützt.

Afghanistan wurde zu verschiedenen Arten von Verboten verurteilt. Was folgte, war das Reich der Stille. Reinheit? Diese kann in der Tat sehr einfach gefunden werden - z.B. im Handel mit Opium, die Quelle des Heroins. Dessen Felder von roten und weissen "Corollas", die von den Taliban bis im letzten Jahr vor der Dürre angepflanzt wurden sind zum Thron der grössten Drogenhändler der Welt geworden. Die Strassen der Städte werden von 3800 religiösen Milizagenten patrouilliert, die Gefolgsmänner des Ministry for the Promotion of Virtue and the Repression of Vice. Wie Tyrannen, schlagen sie jene, welche die Gebetszeiten vergessen, oder jene mit zu kurzem Bart - weniger als eine Hand lang -, und Frauen, die sich trauen, auch nur ein Millimeter ihres Körpers zu enthüllen oder mehr als eine Spur Make-up zwischen ihren Netzschleiern hindurch schimmern zu lassen.

Dann entschlossen sich die Anführer der Miliz, die Vergangenheit auszulöschen und die Statuen zu zerstören. Die Buddhas, die grössten auf der Welt, sollten ausgelöscht werden, um die Vergangenheit zu entwurzeln und einen neuen dem Dogma unterworfenen Mensch zu erfinden, in diesem Land von 20 Millionen Seelen, wo über eine Million Leute den Tod fanden. Die Taliban - Idolzerstörer - wollen in die Erinnerungen eindringen. So ist alles was man antrifft, wenn man bei Einbruch der Nacht durch die Städte von Talibanistan wandert, in diesem antiken Land von Worten, Erzählungen und der mündlichen Überlieferung - den Rittern von Kessel lieb -, die Stille, nichts als die Stille, das Produkt der Angst.

Mohsen Makhmalbafs Film, fein gestimmt wie die Saiten einer verbotenen Violine, ist ein erschütterndes Plädoyer, das einen Schrei ausstösst wie ein Hilferuf. Ein Plädoyer für Frauen, verdammt zu den Fenstern ihrer burkas, das afghanische Kleid, dieses Baumwollgefängnis, diese Zitadelle der Einsamkeit. Ein Plädoyer für die Amputierten, die Truppen von Krüppeln, verwundet von den Minen - diese feigen Waffen, die noch lange nach dem Schweigen der Kanonen weiter zuschlagen - und den Fallschirmen der internationalen Hilfe entgegenhumpelnd. Ein Plädoyer gegen den theokratischen Totalitarismus, den religiösen Stalinismus, der in diesem vergessenen Land wütet. Nafas: "Ich steckte meine Seele in diese Reise." Dies wird vom ausgeschnittenen Dreieck widergespiegelt, das ihre Blicke führt - es ist die Einkerkerung eines ganzen Landes. Jegliches Hoffnungsgefühl ist vernichtet. Als ob die Seelen zu ewigem Umherirren verurteilt wären, im afghanischen Sand und in den Bergen, Festungen des Nichts. Die Mönch-Soldaten haben die Träume verbannt. Die schwarzen Turbane haben die Liebe getötet.
(Text/Verleih/Oliver Weber)

Info zum Kulturhaus: Das Kulturhaus "Ernst Meibeck" (Wer war Ernst Meibeck?) eröffnete am 12.12.2001 anläßlich des ersten Geburtstags von etuxx. Wie der Name schon vermuten lässt, ist Kultur drin und wartet mit ständig wechselnden Veranstaltungen auf uns und Euch. Film, Musik, Internetseiten, Kneipenprojekte, Imbissstuben oder die billigste Trinkhalle, Kultur hat viele Gesichter. E-Mail an kulturhaus@etuxx.com, z.Bsp., was hier unbedingt besprochen werden müsste!
mit abi: was ist denn "paroxysmus"? kann mir das wer erklären?  
brenda: von wem ist diese filmkritik eigentlich?  
Fremdwörterlexikon: Im Angebot hätten wir da 1. eine plötzliche Steigerung der Krankheit oder 2. die affektive Erregungssteigerung (in Tuntenkreisen wohl bekannt) oder 3. einen Krampf oder 4. die sehr starke Vulkantätigkeit. Alles klar?  
Kulturhausleiterin für Brenda:: Brillen bei Ruhnke! Aber für Dich noch mal extra: Unter dem Text steht: (Text/Verleih/Oliver Weber)  
Brendas Anwalt: Meine Mandantin wollte zweifelsohne die Gesinnung des Schreibenden erfragen, seine Haltung zu radikalen Tendenzen in der islamischen Theologie. Metaebene, Sie verstehen!  
Praktische Frage: läuft der schon irgendwo in Berlin? Kommt wer mit?  
Herr der Potter mit praktischem Link: Berliner reisen cineastisch nach K.  timetable