Charlotte von Mahlsdorf
oder: Da wurd' die Scheinwelt zur Realität - bewusster Rückzug oder Naivität?


von Robert M.

Als nicht gewählte, aber doch Quasi-Alterspräsidentin einer deutschen Schwulenbewegung hat sie leider die ein oder andere Milchmädchenrechnung aufgemacht und mit ins Grab genommen. So diffamierend das "Milchmädchen" auch ist, so sehr hat sie dieses Klischee auch bedient. Im besten Falle lässt sich ihre Dienstmädchenscheinwelt mit einer gewissen Naivität begründen. Oder war die Identität einer Gründerzeit-Putze die einzige Möglichkeit, die Schmach, den Hohn und die Anfeindungen der Außenwelt zu ertragen, nachdem Charlotte nicht mehr Lothar sein wollte? Das Resultat war, dass sie als Dienstmagd in Kittelschürze eben sowohl reaktionär am kaiserlichen Frauenbild vorbeischrammte als auch die Genderfrage stellte.

Charlotte von Mahldorf

Wer versucht, einen Blick auf ihr Leben zu werfen, stösst unweigerlich auf weitere Licht-und Schattenseiten. Ende der Neunziger waberte ein Gerücht ums doppelte Lottchen durch die Homogazetten, IM "Park" war "aufgeflogen". In die Zeit ihres Dienstes beim DDR Spitzeldienst von 1971 bis 1976, fällt auch die Gründung des Vorläufers des Ostberliner Sonntagsclubs, die HIB (Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin). Im ausgebauten Keller der von Mahlsdorf traf sich die Gruppe, und die HIB organisierte Veranstaltungen, Themennachmittage und Partys, Frühlings- und Herbstfeste auf dem Anwesen der flotten Lotte. Im Übrigen sollten nicht die Homos ausgespitzelt werden, sondern die "Kommodenkäufer" aus dem Westen. Die Ergebnisse der Schnüffeltätigkeit seien unbrauchbar gewesen, stand später als finaler Vermerk auf den Akten. Das eventuelle Geheimnis, inwieweit das eine proforma betrieben wurde, um anderes zu ermöglich, nahm sie mit ins Grab. Doch gerade das wäre interessant gewesen. Leider sind ihre Memoiren unbrauchbar, um derartiges zu recherchieren. Sie selbst beschrieb, darauf angesprochen, die Ungereimtheiten gern als weibliche List, andere rezensierten ihr Buch "Ich bin meine eigene Frau" als beschönigen, manchmal erlogenen Rückblick in ihr Leben, der vor allem eines wegliess: das ein oder andere Stückchen Wahrheit. Schade Charlotte!

Jüngere werden sie gar nicht persönlich kennen, Berliner besuchten vielleicht mal die "Mulack-Ritze", ein Originalkneipen-Interieur einer Homobar des Scheunenviertels der Goldenen 20er, denn ihr Gründerzeitmuseum enthielt auch das. Vor fast genau 10 Jahren marschierten Ost und West das erste Mal gemeinsam beim Berliner CSD unter ihrer Führung. Auch der Eröffnung der Schwulen Baustelle in Hamburg gab sie im selben Jahr ihren Segen. Ihr Bundesverdienstkreuz für die Bewahrung von Gründerzeit-Kulturgut nahm sie im Damenmantel an, auf Taille geschnitten, und ärgerte sich, dass nicht Charlotte von Mahlsdorf auf dem dazugehörigen Dokument stand sondern Lothar Berfelde. Aber es wurde die Möbelsammelleidenschaft geehrt und nicht die Dienstmädchenidentität. Zum Lebensende interpolierte die Charlotte von Mahlsdorf leider in ihren Buchvorstellungen die DDR-Greultaten bis hin zum "roten KZ". Für sie waren damit die Unterschiede zwischen Nazis und DDR nicht mehr all zu groß. Böse Zungen behaupten, dass die Dämpfe der Möbelbeize und Politur ihr wohl dann im Alter zu Kopf gestiegen seien.

Ihren Hass projizierte sie auf das DDR-Kunsthandelssystem, obwohl sie auch Teil dessen war. Sie taxierte ab 1983 für den Staat Möbel der DDR-Ausreisewilligen. Andererseits verkaufte sie aus ihren Sammlungen an DDR-Museen. Oder musste sie verkaufen? Irgendwoher muss der Hass ja kommen. Und auch die ein oder andere D-Mark wechselte ihre Besitzerin vor der Mahlsdorfer Gutshaustür für Stücke aus Charlottes Sammlung, doch alles in allem reichte der "Gewinn" nicht. Das Gründerzeitmuseum schloss 1995 aus finanziellen Gründen.

Sie wird eine grosse zwiespältige Figur bleiben, ein schillernder Pionier der Ost-Schwuppen-Bewegung, der vieles mit dem Spitzenhäubchen aufbaute, um es mit dem Faltenröckchen wieder einzureißen. 1997 ging sie (wie sie sagte, wegen der Naziüberfälle und Pogromstimmung von 1992) mit einem Teil ihrer Möbel ins Ikealand ins "Exil", doch ihr grösster Wunsch war damals, dass König Gustav sie besuchte. ... Sie soll ihren Nazivater 1943 erschlagen haben, der sie quälte, weil er keine Charlotte statt eines Lothars haben wollte. Die meisten, die sich näher mit ihr beschäftigen, lassen den Totschlag in der Biografie weg, weil sie ihn nicht glauben. Und auch ich weiß es nicht. Vom Kriegsende berichtete sie: "ein Wehrmachtsoffizier mit Gefühl und Bildung habe sie vorm Erschiessen bewahrt. ... Nach dem Krieg habe ich nach diesem Offizier gesucht, denn eigentlich hat er mir ja das Leben gerettet. Ich habe ihn leider nicht gefunden, aber ich hätte ihm gern die Hand gedrückt ... . Das war kein grobschlächtiger Mensch ... ."

etuxx-Archiv (Nov/Dez 2000):
Brenda von Strick am Barren: Ficken mit Charlotte von Mahlsdorf oder Das Loch hinter dem Durst nach Dunkel, postperverser Korrespondentenbericht über Darkroomfantasien

Lore Logorrhöe: Ähnliche Kritik wie in Roberts Artikel äußert auch Eike Stedefeldt in dem heute im "Freitag" veröffentlichten Nachruf. Natürlich benutzt er seine Kritik zugleich noch dazu, um sich von anderen dummen und bösen Linken abzusetzen. Er demontiert eine Presseerklärung der PDS-AG Queer. Sehr verärgert hat mich aber, dass er die berechtigte Kritik mit transphoben Ausfällen würzt. Er spricht durchweg von "ihm" und ignoriert bewusst Charlottes selbst gewählte Geschlechtsidentität, ja er nennt ihre gesamte Identität eine Fiktion. Hat sie ihr Recht auf freie Wahl der Geschlechtsidentität verwirkt?  Eikes transphober Nachruf
angst-transe: möglicherweise kann der Eike nur mit "medizinisch behandelten und richterlich genehmigten" transen was anfangen.  
Lore: Ich glaube eher, dass Eike Charlotte posthum eins reinwürgen wollte und ganz genau weiß, wie verletztend es ist, das Zeilgeschlecht zu ignorieren. Ein schmutziges kleines Spiel, das noch dazu völlig überflüssig ist, wie Roberts Artikel belegt, der fast dieselbe Kritik äußert, ohne ausfällig zu werden.  
Liesbeth: Ich denke der harsche Ton, den Eike Charlotte gegenüber anschlägt, ist wohl mehr der in der "Communty" gängigen allgemein wohlwollenden Haltung geschuldet, die Kritik an der verstorbenen Ikone als nahezu blasphemisch abwehrt, als einer Transphoben Argumentation. Daß er zur Unterscheidung des Idols Charlotte vom Spitzel und in geschlechterollen verhafteten Lothar ausgerechnet den abgelegten männlichen Namen gewählt hat, ist natürlich natürlich nicht desto Trotz problematisch.  
der uneindeutige: @ Lore: "zielgeschlecht" impliziert keinen anderen zuordungszwang als "er" oder "sie", es polarisiert und laesst partielle identitaeten nicht zu.  
Brenda@ "der" uneindeutige: Na und: aber Charlotte HAT sich ja ein weibliches "zielgeschlecht" gegeben. möchtest du jetzt einen zwang zur uneindeutigkeit?  
Marcie: Was uns noch fehlt zur Befreiung, das ist die erste offene Faschotunte ;-). Im Ernst: von der systemzersetzenden Kraft der offenen Sexualität ist nichts, aber auch garnichts übrig geblieben. Dabei war das doch in den 70gern der große Ansporn der politischen Schwulenbewegung. Aber das System steckt alles weg. Tunte mit Bundesverdienstkreuz. Schwuler Bürgermeister in der größten Stadt. Schwuler Bürgermeister in der zweitgrößten Stadt. Schwuler Kanzlerkandidat bei einer rechtsliberalen Partei. Was sagt uns das?  
schlaubär: du hast den schwulen ministerpräsidenten übersehen, der dazu nicht steht und somit zum teil des systems gehört, der "die kröte" nicht zu schlucken bereit ist. was sagt dir das?  
Marcie: Das sagt mir eins: mich interessierts im Grunde och nich, wer alles schwul is. Kann es sein, daß auch für Foucault und seine Kumpels die Scheinwelt zur Realität wurde? Ich mein die olle graue Theorie, dass die Unterdrückung der Sexualität die Wurzel allen Übels und aller Repression ist ...  
Brenda: ????? Foucault hat doch genau diese These widerlegt!!!! Oder hab ich dich falsch verstanden, Marcie?  
Marcie: Ach so. Na denn is alles im Lack.  
Eike Stedefeldt: Liebe Leute, wer über eine Fiktion schreibt, muß auch den nicht-fiktiven Teil kenntlich machen; hier bieten sich "bürgerliche" Namen und Geschlechterzuweisungen an. Nehmt das "er" und den Namen Lothar Berfelde hier also als das, was sie sein sollen: publizistisches Mittel, nicht Ausdruck irgendweiner Transenfeindlichkeit. Im übrigen finde ich, daß ("männlicher") Name und Geschlecht sowieso Fiktionen sind, man dieser Logik also vielleicht nicht ganz so exakt folgen sollte, sofern man sie denn dekonstruieren will. Als legitim halte ich meine Handhabung im konkreten Fall auch gerade deswegen, weil "von Mahlsdorf" so sehr der Pflege tradierter Geschlechterrollen anhing.  
Lore@Eike: Lieber Eike, es gibt ganz viele Transsexuelle, die ein ganz traditionelles Geschlechterbild haben. Ist das ein Grund, ihre Transsexualität in Abrede zu stellen und auf ihrem Geburtsgeschlecht zu beharren. Wenn Charlottes Mannsein eine Fiktion ist und ihr Frausein auch, warum sich dann nicht für die Fiktion entscheiden, die dem Wunsch derjenigen entspricht, die sie haben?  
zum Thema Zielgeschlecht: Martin Z. fühlt sich als Kerstin. Kerstin ist 42 und sitzt in der JVA Moabit ein, für 10 Jahre. Noch im Männerknast, er möchte aber ins  Frauengefängnis ...
Kaum einer will ins CvM-Günderzeitmuseum: aus etuxx news/2002-06-29: Die Streits der Feuilletongärtner, was für eine Berliner Pflanze Charlotte von Mahlsdorf wohl gewesen sei -Geranie oder Orchidee (taz)- ist noch nicht beendet. Doch das bankrotte Berlin sitzt jetzt da, mit seinen Schulden und dem von-Mahlsdorf-Erbe. Naja: "Eine Straße in Marzahn-Hellersdorf soll nach Charlotte von Mahlsdorf benannt werden, vielleicht auch ein Brunnen." (Berliner Z.). Der Bezirk Mahlsdorf, der 1997 für 0,5 Mill Mark (4/5 Lottogelder) die Möbel kaufte, kann sich das Museum nicht leisten. Der daraufhin gegründete Förderverein, der auch auf bezirkliche Zuschüsse angewiesen ist, befürchtet eine Schließung der Ausstellung noch im diesjährigen August.  mehr
Sascha B.: Kleiner Vergleich: Charlotte von Mahlsdorff permanent Lothar Berfelde zu nennen, erinnert an Konrad Adenauers Versuch, Willy Brandt zu diffamieren, indem er ihn mit seinem Geburtsnamen Herbert Frahm belegte. Don´t play games with names (ausser mit dem eigenen)!  
Farbbeutelfan: Heißt das ich muß Joseph Fischer Joschka nennen?  
Genau: jawolla!  
Klaus: Ich habe übrigens gerade entdeckt, das es die Autobiographie von Charlote auch als Ebook gibt zum lesen auf einem PDA. Ist wirklich ein sehr schönes Buch.  Autobiographie als ebook