Muttis Berlinale 2002
Das homosexuelle Filmschaffen, wie es sich traditionell einem internationalen Publikum präsentierte, ist in der Krise. Nicht nur, dass die Kategorien schwul/lesbisch schon lange nicht mehr greifen, sondern auch das jahrelang gepflegte New Queer Cinema ist zugunsten eines wie auch immer erweiterten Gender-Kinos aufgehoben.

So wurde konsequenterweise 2002 der Dokumentar-Teddy an Alt Om Min Far Alles über meinen Vater verliehen. Eine Auseinandersetzung des heterosexuellen Regisseurs Even Benestad mit seinem heterosexuellen Vater Esben Benestad, der Arzt und Sexualtherapeut ist und in seiner zweiten Haut als Transvestit "Esther Pirelli" in Norwegen Erfolge feiert.

Die Krise der Homo-Berlinale zeigt sich aber besonders darin, dass es dieses Jahr bedeutend weniger für ein Homopublikum zugeschnittene Filme gab, als die Jahre davor. Dafür wurde dann allerdings die bis auf die letzte Garderobenmarke ausverkaufte Teddy-Gala im neuen Tempodrom noch glamouröser, glatter und perfekter. Mit Wowereit & Kosslick, Fernsehübertragung und Huschen-Schubsen soweit das Auge reicht.

Es scheint, dass sich hier zeitversetzt der gleiche Mechanismus eingestellt hat, den der Berliner CSD seit Jahren durchlief: Je weniger Substanz, desto mehr Teilnehmer bei gleichzeitig ansteigender Medientauglichkeit.

Aber es gibt doch noch das klassische, schwule Coming-Out Melodram: Food for Love Der Liebe Nahrung von Ventura Pons, in einer spanisch-deutschen Koproduktion. Ein 17-jähriger Musikstudent vergöttert einen berühmten Konzertpianisten. Es folgt nach langem hin und her, - ein Geschlechtsverkehr. Die geschiedene Mutter des Boys muss dann damit klarkommen.

Der Film ist eine kongeniale Adaption von David Leavitt’s Roman The Page Turner. Eben ganz normal schwul, wie schon Die Zeit 1989 über Leavitt’s Erstling, Die verlorene Sprache der Kräne befand. Weisse Middle Class Biederkeit bis über die Schamhaargrenze. Trotzdem ist die Schauspielerin Juliet Stevenson als durchdrehende Mutter überaus sehenswert. Wer also so etwas mag, ist gut bedient bei Food for Love. Läuft bestimmt demnächst mal im Xenon oder bei MonGay im Kino International.

Eine Überraschung ist Rosa von Praunheims Tunten Lügen Nicht. Eigentlich war zu erwarten, dass kaum Vernünftiges dabei rauskommen kann, wenn sich stadtbekannte Nervensägen wie Ovo und Co. mit einem Regisseur zusammentun, der es immer mal wieder geschafft hat, interessante Stoffe zu misshandeln. Aber weit gefehlt. Eine ernsthafte, nachdenkliche, spannende Doku. Auf Beta - also nix fürs Kino, sondern etwas für die ARD-Nachtschiene.

Das ist übrigens der einzige Film, in dem HIV und Aids eine Rolle spielen. Klaro, es gibt ja die Kombitherapie, und Afrika ist weit weg.





Speziell für alle etuxx- Klicker kann ich den Film On_Line von Jed Weintrob empfehlen. Zwei New Yorker Heteros betreiben eine kommerzielle, interaktive Website für sexuelle Dienstleistungen aller Art, bei der sich Kunden wie Anbieter über Webcam gegenseitig beobachten und ausagieren können. Der Film ist formal interessant gemacht.

Auf der Leinwand erscheinen immer wieder grob gepixelte Bildschirmfenster, auf denen gestöhnt und gewixt wird. Wie zu erwarten ist, geht es in diesem Spielfilm um die Konfrontation virtueller Phantasien mit den real dahinter stehenden Menschen - von todessüchtigen Grufties bis zu einem einsamen, schwulen Provinz-Punk. Trotz der auf Dauer ermüdenden Leinwandspielereien entwickelt sich eine tolle Story und ich wünsche On_Line einen Verleih, der sich traut, diesen Film ins Kino zu bringen.

Findet schwuler Sex bei On_Line noch am Rande statt, sucht man erst einmal vergeblich irgendetwas Homosexuelles beim griechischen Wettbewerbsbeitrag DekapentavgoustosEin Tag im August, obwohl Regisseur Constantinos Giannaris nicht nur 1990 mit "Trojans" und 1992 mit "Caught Looking" den Teddy mit explizit „schwulen Filmen“ gewann (und nebenbei bemerkt, am 2. Teil von Battle of Tuntenhaus beteiligt war).

Dekapentavgoustos also: Maria Himmelfahrt, ist in Griechenland nach Ostern der zweitwichtigste Feiertag und die Athener verlassen alljährlich von Hitze und Smog geplagt, fluchtartig ihre Stadt.



So auch die drei Mietparteien eines Hauses, bestehend aus einer spießigen Arbeiterfamilie, die bis auf die leukämiekranke Tochter schwer übergewichtig ist, einem polittoxischen Pärchen mit akuten Amphetaminproblemen und einem kinderlosen Yuppie-Ehepaar.

Während die Familie in der Hoffnung auf ein Wunder für ihre Tochter zu einem Marien-Wallfahrtsort pilgert, versuchen die beiden Paare ihre kaputten Beziehungen zu retten. Zusammengehalten wird der Film durch die Story eines jugendlichen Einbrechers, der in das Mietshaus während der Feiertage einbricht.

Beginnt der Film als schnellgeschnittene Sozial-Groteske, wird später die Handlung immer langsamer, blutiger und trauriger; - was eigentlich ok wäre, würde Giannaris nicht unmerklich die Bodenhaftung verlieren und die Bilder mit allen erdenklichen Symbolismen überladen. Trotzdem durchaus sehenswert und allemal wohltuend gegenüber den "Movies Made in Germany", in denen gerne mal auf halber Treppe ein Felsen die Sicht auf den Himmel versperrt.

Ach ja – man kann, wenn man will, bei Dekapentavgoustos durchaus einen schwulen Subtext erkennen. Oder anders ausgedrückt: Die irgendwie queere Dekonstruktion der Heteronormalität macht den Film so symphatisch.

Den Genderbender-Sektor endgültig verlassend, möchte ich noch einen Hochsommerfilm, nämlich August - A Moment before the Eruption von Avi Mograbi (Forum) empfehlen. Der israelische Dokumentarfilmer hat im August 2000, also 2 Monate vor Ausbruch der Al-Aqsa Intifada mit seiner Videokamera Alltagsszenen in Tel Aviv und am Rande der besetzen Gebiete aufgenommen. Diese sind trotz der überall lauernden Aggression streckenweise unglaublich komisch, - auch wenn einem das Lachen im Hals stecken bleibt.

Leider hat der Filmemacher fast die Hälfte der Filmzeit mit improvisierten Spielszenen belegt, in denen er seine Videoaufnahmen ironisch kommentiert. Und das nervt auf die Dauer. August, ausgezeichnet mit dem Friedensfilmpreis, kann man bestimmt dieses Jahr noch auf 3sat oder Arte sehen.

Ein anderer Dokumentarfilm Marlene Dietrich – Her Own Song ist vom deutschen Feuilleton (Taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung usw.) mit Häme bedacht und vernichtend verrissen worden. Gedreht hat ihn Marlene Dietrichs Enkel J. David Riva. Er hat dabei nicht nur viele Zeitzeugen (von Beate Klarsfeld bis Burt Bacharach, von Hildegard Knef bis zu amerikanischen WK II Veteranen) interviewt, sondern auch fantastische, bisher unveröffentlichte Privataufnahmen hervorgekramt.

Riva geht es dabei aber nicht um die xte Wiederaufbereitung des Mythos Marlene, sondern er fokussiert den mutigen, tapferen und leidenschaftlichen antifaschistischen Kampf seiner Großmutter, wie auch ihr nicht ermüdendes Engagement bis zu ihrem einsamen Tod in Paris. Dass er dabei mit konventionellen Fernseh-Methoden arbeitet und hin und wieder das ein oder andere Biographische schönfärbt – geschenkt!

Marlene Dietrichs Besuch am Denkmal für die Ermordeten des Warschauer Gettos, knapp zwanzig Jahre vor dem Kniefall eines Bundeskanzlers, spricht für sie. Diese Bilder sind nicht wirklich dazu geeignet, sich mit der deutschen (Nachkriegs)Geschichte zu versöhnen - einer Tatsache, die offensichtlich auch das liberale Feuilleton der Dietrich nicht verzeihen will. Marlene Dietrich – Her Own Song hat die Edition Salzgeber im Verleih. Man wird ihn also hoffentlich im Kino zu sehen bekommen.

Zum Schluss noch der obligatorische Verriss. Allerdings nicht aus meiner Feder, denn ich habe mir, Schlimmes ahnend, den Wettbewerbsfilm Baader (Regie Christopher Roth) anzusehen erspart. Eine Freundin war drin:

"... aber weil ich schon mal da war, habe ich Baader trotzdem gesehen. Der Film ist richtig schlecht. Nicht nur verfälscht er die Geschichte vollkommen, er ist auch stümperhaft gemacht. Die Story ist lächerlich (drogensüchtiger Terrorist gegen väterlichen Sozialarbeiterbullen, der ausgerechnet noch Chef des BKA ist).
Das Drehbuch müsste man den Leuten um die Ohren hauen. Sinnvolle Aussagen sind ein paar Zitate von Brecht, die aber aus ihrem Zusammenhang gerissen auch noch falsch sind und dadurch nur noch kitschig wirken. Die Kamera ist schlecht. Sie schneidet Gesichter ab, die gerade reden. Dabei wäre es wichtig, den Leuten in die Augen zu sehen usw...
Ich weiß echt nicht, was mir mehr auf die Nerven geht: Die bekloppte und wahrscheinlich nicht mal beabsichtigte Botschaft ("der gute Bulle kämpft für euch, ihr braucht euch nicht zu kümmern, er regelt das schon mit der besseren Welt") oder die schlechte Verpackung des Ganzen. Naja."

Soweit so gut, mit der Freundin. Dass übrigens nationale Traumata fürs Kino durchaus packend und politisch relevant aufbereitet werden können, beweist der Film Bloody Sunday von Paul Greengrass (Gewinner des "Goldenen Bären") über den immer noch ungesühnten Blutsonntag am 30. Januar 1972, an dem britische Fallschirmjäger im nordirischen Londonderry 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen.

LINKS:
Muttis Berlinale 2001
die Seiten des Teddys

Uwe: Dass der klassische Homofilm in der Krise sei, kann auch heißen: Der schwul-lesbische Problemkreis ist keiner mehr. (Jedenfalls lange nicht mehr so ein großer wie noch vor 10 oder 20 Jahren). Muttis Analogie zum CSD und dessen inhaltliche Bedeutungslosigkeit sind äußerst treffend. Diese "Avangarde-Seiten der schwulen Szene" (das soll etuxx sein) beschäftigen sich auch mit allen möglichen Themen, doch der klassische lesbisch schwule Beitrag ist auch hier schon lange in der Krise.  
etuques: Wir? Avan-garde? Französisch können wir!  
Wolle Stuttgart: An alle FilmemacherInnen:Ich will jetzt Filme, die über abzockendes Schwulwirtetum, schwules LSVD-Grünes-Dumpfbackentum, schwule Völklinger-Kreis-Führungskräfte-Arroganz reflektieren. Überhaupt ist das Thema "Schwule diskriminieren Schwule" höchst interessant.  
OA: Abzockerei gibt es doch nicht nur bei Schwulens, auch Arroganz ist nicht nur homosexuell. Lobbiismus ist leider auch in anderen (un-)bewegten Kreisen weit verbreitet. Ich glaube, das Argument der Diskriminierung greift nicht. Es ist eher die Arroganz der Macht oder des Reichtums. Schwule sind da nicht anders als die anderen. Und haben auch nicht den Anspruch, nur weil sie schwul sind, besser zu sein.  
Sascha B.: "...haben auch nicht den Anspruch, nur weil sie schwul sind, besser zu sein." - Das ist der entscheidende Punkt, OA! Wir sollten mal ganz selbstkritisch prüfen, ob wir nicht doch der Meinung sind, Schwulsein enthalte einen gewissen Anspruch (z.B. die Verpflichtung zur Solidarität über soziale Grenzen hinweg). Ich meine ja, die LSVD-, Völklinger-Kreis- und sonstigen -Wirte haben sich längst vom Schwulsein emanzipiert und sind GAY geworden... (Aus Kritik, Wut und Utopie rieselt am Ende ein Lebensstil heraus, ein Distinktionsgewinn.)  
Gay-Lore: Sascha, du hältst zwar hartnäckig daran fest, dass uns das Schwulsein ein Auftrag zur Weltverbesserung sein sollte, aber das ist nicht mehr als moralischer Appell: Gerade Sie als ... sollten doch...! Solidarität ist eben etwas anderes als Mitleid und Gutmenschentum. Im Übrigen spekulierst auch du auch einen moralischen Distinktionsgewinn gegenüber schwulen Kapitalisten. Das ist genauso langweilig zu beobachten wie das Hälserecken der Gays. Ich bin gay, und das ist auch gut so!  
Prada Meinhof: Ich finde Sascha B. neigt immer wieder gerne zu Schwarz-Weißmalerei: Seiner Ansicht nach sind alle Typen vom - sagen wir mal - Völklinger Kreis, voll die Arschlöcher. Und dem gegenüber setzt er dann uns kritisch-aufgekärte, linksradikale Homos. Aber erst nach Feierabend,- nach unseren stinknormalen, hetendominierten Jobverhältnissen. Hahaha. Hehehe.  
Prada Meinhof: Hohoho.  
U2: Wer die Welt in Schlips und Nichtschlips einteilt, zieht die Linie auch bei Springerstifel resp. Iro. Alles Äußerlichkeiten und Vorurteile Herr B. Verpflichtung zur "..." (aus welchem Pflichtenheft???) Ganz recht Prada  
Klaus: Für im Grunde normal zu gelten ist ja wohl der größte Wunsch vieler Schwuler. "Ganz normal anders" hiess eines der ersten coming-out-Bücher. Nur, für manche ist das eben eine Horrorvorstellung: ganz normal zu sein - und damit auch nichts besonderes mehr. Und die leiten dann aus dem Schwulsein diesen oder jenen Anspruch ab. Ich halte es da wie die SPD. Daß ich schwul bin, ist mir wurscht.  
Mutti: Glaub ich nicht, - mit dem wurscht sein. Sonst müßte unsereiner nicht drauf bestehen, dass es einem vollkommen wurscht ist.  
Sascha B.: @ Gay-Lore (darf ich Dich ab jetzt immer so nennen?): Ich halte in der Tat daran fest, "dass uns Schwulsein ein Auftrag zur Weltverbesserung sein sollte"! Und ich habe dabei durchaus auch eine Praxis im Sinn. Aber in einem Diskussionsforum kann man eben nur appellieren.  
Sascha B.: @ Prada Meinhof: Meistens, und so auch hier, ist der Interpret der eigentliche Schwarz-Weiss-Maler. Ich finde schwule Yuppies nicht schlimmer als Hetero-Yuppies und schwule Prolls genauso dumm wie Hetero-Prolls (Schlips oder Nichtschlips, U2, spielt, wie andere Äusserlichkeiten, dabei kaum eine Rolle). Zum "richtigen" :-) Schwulsein gehört auch zu allerletzt, nur im Homo-Umfeld zu leben und zu arbeiten! Das ist vielmehr geradezu ekelhaft! (Und eben eher ein Merkmal der "Gays".)  
Klaus: Ich bestehe ja nur hier darauf, weil es hier ausdrücklich Thema ist. In der Großstadtwelt ist einfach kein Thema mehr. Würdest Du Dich nicht ausschütten vor lachen, wenn Du in Hamburg oder Berlin jemanden in einem T-Shirt sähest auf dem stünde "Ich bin schwul" ? Das Thema ist längst nicht überall durch, das ist mir klar. In der Provinz nicht, in den Kirchen nicht, bei Sascha B. nicht ... Aber wenn es einmal durch ist - dann ist es wurscht.  
Die ideelle Gesamtschwuchtel: Normal ist ein gutes stichwort. Ich wollte früher einfach völlig normal sein und mußte dabei merken, dass es gar nicht geht. Man kann der normalität nur unterschiedlich nahe kommen, aber man kann sie niemals wirklich erreichen. Je mehr ich versuchte dahinerzukommen was normalität ist umso weniger blieb davon übrig. Ich ließ diese erkenntnis auf mich einwirken und fühlte ich mich irreversibel denormalisiert. Nicht viel später entdeckte ich meine schwulität. Ich habe mich seitdem immer gefragt, ob es da einen zusammenhang geben könnte.  
Sascha B.: @ Klaus: Du findest also, dass sich Schwulsein als Problem "erledigt hat", weil es (zweifellos) lächerlich wäre, etwa in der Berliner Innenstadt ein "Ich bin schwul!"-T-Shirt zur Schau zu tragen? Du findest das Leben in einem Pseudo-Toleranz-Ghetto befriedigend? Du bist froh darüber, dass Du endlich auch heiraten und Karriere machen darfst? Nein: wenn am emanzipatorischen (politischen) Potential schwuler Lebensweise(n) nicht festgehalten wird, geht es nur noch um die mehr oder weniger vollständige Eingemeindung.  
Sascha B.: weiter @ Klaus: Schwulsein ist aber ein politischer Auftrag. Ich weiss: wenn Dir das vorher jemand gesagt hätte, dann wärst Du wohl gar nicht erst schwul geworden. Vielleicht bist Du ja auch gar nicht schwul, sondern lediglich homosexuell. Aber dafür kann ich nun leider nichts... - GEGEN DEN CSD-KARNEVAL ! GEGEN KOMMERZ- UND KARRIERESCHWUCHTELN ! GEGEN LUXUSGHETTOS ! FÜR EINE NEUE POLITISCHE SCHWULENBEWEGUNG ! (Lesben ooch... Aber die haben das weniger nötig: die sind meistens kritischer und politischer.)  
Robert M.: Ach Du liebe Güte, Sascha, was ist los mit Dir? Arbeitest Du gerade was auf, tut mir leid, aber diese Losungen klingen aus deinem Munde etwas platt und sehr staubig, obwohl ich doch große Stücke auf Dich halte. ;-)  
Robert M. an Muttis Freundin: Unbenommen, dass der Film BAADER schlecht ist, aber sich filmisch dem Thema anders als dokumentarisch zu nähern, finde ich schon einen lustigen Ansatz. Den Reiz den Liebhaber, Looser, Hartliner Baader, eben Baader privat zu skizzieren bzw. sich mal eben nicht über die politische Dimension dem Thema zu nähern, kann ich nicht leugnen. Oder darf man mit manchen Themen nicht spielen?  
Sascha B.: Lieber Robert! Es kommt nicht darauf an, aus welchem Munde diese "Losungen" klingen! Lass sie einfach klingen! Und arbeite dann selbst mal was auf! Das würde die "Stücke" noch verbessern, die ich auf Dich halte... :-) Ich bin einfach "konservativ" in diesem Sinn: weil ich finde, dass sich gewisse Dinge längst nicht erledigt haben und man immer und immer wieder darauf hinweisen muss...  
Leo: Sascha, zwischen "schwul" und "homosexuell" einen Unterschied zu machen, hatte 1969-1994 einen gewissen Sinn. Davor gab es diese sprachliche Differenzierung nicht. Und mit dem Ende des 175 hat sie ihre Funktion wieder verloren. - Irgendwie unterscheidet sich das Politikverständnis, was Du hier feilbietest, gar nicht so groß von dem der Herren Bruns, Beck und Dworek. Die machen sich auch zu Sprechern eines schwulen "Wir" und wollen mir nahebringen, weil ich schwul bin, müßte ich eine ganz bestimmte politische Meinung haben. Muß die Gegenposition wirklich genauso monokausal und schematisch daherkommen?  
Sascha B.: Hm. Offenbar schwierig, mich verständlich zu machen... Leo, ich fordere doch gerade eine Abkehr vom Mainstream, vom diffusen, schwulen "Wir"! Ich fordere eine Neubewertung des Begriffs "schwul" - als Kampfbegriff. Du allenfalls anmerken, dass das nicht praktikabel wäre. Gut, dann überlege ich mir ein anderes Wort dafür... :-)  
Sascha B.: Und, Leo, die sprachliche Differenzierung zwischen "homosexuell" und "schwul" ist mit der Abschaffung des § 175 keineswegs obsolet. Sie wäre es erst dann, wenn niemand mehr den Begriff homosexuell verwendete. - Und was an meiner Position monokausal sein soll, verstehe ich leider auch überhaupt nicht. - Wir könnten z.B. mal damit anfangen, Schwulsein als Entscheidung zu verstehen und nicht als Triebschicksal.  
raissa: sascha, liebling, da sehen wir einmal nicht die gnade, sondern die tragik der späten geburt. vor dreißig jahren, als sich nach stonewall die homobefreiungs- von der homophilen-bewegung abgrenzte, waren deine forderungen revolutionär. die gay-lib dachte, dass homo-sein ein schlüssel zur solidarität mit anderen unterdrückungsverhältnissen ist. das ist auch nicht falsch, denn in einem gesellschaftlichen widerspruch sind immer andere enthalten: man kann sexismus nicht ohne rassismus und ohne klassenverhältnisse denken, usw. ... aber es bleiben zwei fragen: wie sind die widersprüche verbunden? und: was folgt daraus?  
raissa: zu 1: schwul sein kann man in rumänien oder hier, mit viel geld oder wenig, in einer großstadt oder auf dem dorf... und du meinst, man hätte immer ein und dasselbe problem? und müsste deshalb immer ein und denselben kampf fechten? zu 2: findest du es nicht uncool, jemandem zu sagen: "weißt du, das und das ist der wichtigste widerspruch in deinem leben, jetzt geh mal los und kämpfe gegen alles übel der welt!" wann hat denn bei dir selbst zuletzt jemand versucht, dich für diese oder jene bürger-ini oder kleinpartei zu werben? und bist du wirklich eingetreten?  
Leo: @ Sascha: Es ist die schwule Variante des Hauptwiderspruchsdenkens. Der kleine Archimedes der in jedem von uns steckt will einen festen Punkt haben, mit dem er die Welt aus den Angeln heben kann. Dazu zentriert er das gesamte politische Weltbild um einen einzigen Aspekt, aus dem sich gedanklich zwingend alles andere zu ergeben hat: Die Arbeiterklasse, den Kampf der Trikontvölker, den Spanischen Bürgerkrieg, den Konstruktcharakter des Geschlechterdualismus oder der Nation, das Wertgesetz, den parteimäßigen Pogo-Anarchismus, die Tierrechte oder in Deinem Fall die Schwulität.  
Leo: Und ich glaube Du unterschätzt, welche Tragweite der Wegfall des 175 hat. Es handelt sich um einen Wechsel der Herrschaftsstragie weg von einer prohibitionistischen hin zu einer flexibel-normalistischen. Das heißt anstatt nach einem starren Kriterium die Untertanen in gute und schlechte zu sortieren, definiert man auf Grundlage statistischer Kenntnisse gestaffelte Toleranzbereiche so, daß sie einen Assimilationssog entfalten ohne dabei die Stabilität zu beeinträchtigen. Das klingt kompliziert, ist aber von der Idee her ganz einfach - aus der Sicht der Macht gesagt: Was ich nicht verhindern kann, das muß ich institutionalisieren.  
Leo: Und etwas institutionalisieren funktioniert, indem ich bestimmte Formen davon erleichtere bzw. andere erschwere, damit es mehrheitlich eine einheitliche Form annimmt. Eine vergleichbare Umstellung kommt jetzt z.B. bei der Zuwanderung, ein anderes Beispiel ist der Paradigmenwechsel in der betrieblichen Arbeitsorganisation. Das besondere Feature der zweiten Strategie ist, daß sie verhindert, daß unter den Beherrschten eine oppositionelle Mehrheit entsteht, indem sie das motivationale Umfeld individualisiert.  
Leo: Ich erzähle das deswegen so ausführlich, weil eine politische Gegenstrategie nur dann was taugt, wenn sie sich auf solche entscheidenden Feinheiten einstellt. Eine Kollektividentität als Gegenstrategie taugt was gegen starre Machtverhältnisse. Z.B.: Wir, die politische Schwulenbewegung gegen den 175. Gegen flexibel-normalistische Machtverhältnisse trete ich mit einer Kollektividentität auf der Stelle, die passende Gegenstrategie muß eine irgendwie fraktalere Form haben. Das Schwierige dabei ist, daß da noch keine fertigen Konzeptionen vorliegen, auf die man zurückgreifen könnte. Es ist Neuland.  
fa'afafine: aber meine lieben! zerbrecht euch doch nicht so schlimm eure kleinen koepfchen. macht lieber mal wieder schoen urlaub und raucht 'ne tuete!  
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fa'afafine: ist urlaub gleich strandkorb? doch wohl kaum, mein gutes kind! nun, bei dir vielleicht. im uebrigen ist das benutzen von anglismen nicht wirklich angesagt.