
"Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen" erschien auf deutsch 1996 im Kölner Jackwerth Verlag (ISBN 3-932117-20-4)
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Und alles nur wegen der Uhr. Die war ihm gestohlen worden. Das muss 1938/39 gewesen sein im Steinbachpark in Mühlhausen. Der damals 15jährige Pierre Seel ging zur elsässischen Gendarmerie und meldete den Diebstahl. Doch der Polizist wurde wütend und brüllte den Jungen an: "Im Steinbachpark? Was hast du dort nur gemacht?" Die Gegend war als Homosexuellentreffpunkt bekannt und da begriff Seel zum ersten Mal, "dass ich kein Bestohlener, sondern ein Homosexueller war." Und das sollte er für die französische Polizei auch bleiben, bis die ins Elsaß einmarschierte Gestapo die ihr von der Gendarmerie überlassenen Homosexuellenregister zu nutzen wusste und alle darin Vermerkten ohne großes Zaudern verhaftete. Grundlage war der im Deutschen Reich 1936 verschärfte Homosexuellenparagraph § 175 - Frankreich hatte entsprechende Bestimmungen nach der Französischen Revolution schon etwa 150 Jahre früher abgeschafft. "Es waren an diesem Tag zwölf Homosexuelle da und ich war der jüngste. Sofort wurde mit dem Verhör angefangen. Die Gestapo-Leute schrien: 'Peter Seel, du bist homosexuell!' Zuerst sagte ich nein, aber dann kam die Folter. Sie sagten: 'Du bist ein Schweinehund! Wir haben das Papier, dass du vor zwei Jahren bei der französischen Polizei unterschrieben hast. Du bist homosexuell, denn du warst auf der Toilette im Steinbachgarten!'"
Doch das sei erst der Anfang gewesen. "Die Gestapo-Leute waren verrückt. In einer Ecke haben sie den Leuten einfach die Fingernägel ausgerissen. Eine schreckliche Prüfung war, dass wir gezwungen wurden, auf einem Lineal zu knien. Ich wurde auch mit dem Lineal vergewaltigt, bis überall Blut war. Deswegen bin ich heute noch zu hundert Prozent Invalide. Viele glauben, dass die Aktionen einheimische Kollaborateure durchgeführt haben, aber das stimmt nicht, das waren keine Elsässer. Diese Gestapo-Einheiten kamen komplett aus Deutschland, um das besetzte Elsaß zu deutschem Gebiet zu machen. Die haben uns gefoltert." Was ihm als jungem Mann passiert ist, konnte Seel bis zum Schluss selbst kaum glauben. Oft hielt er im Gespräch inne, sah sein Gegenüber an und fragte ungläubig "Wie ist sowas nur möglich?" oder "Können Sie sich das vorstellen?" Vieles, was der kleine Mann mit dem gebückten Gang und dem unendlich traurigen Gesicht widerfahren ist, will man sich lieber nicht vorstellen.
Die Gestapo habe niemals normal mit den Häftlingen gesprochen, sondern immer nur geschrien. "' Schnell, Schnell!' und so weiter. Schrecklich. Und wir waren die Gefangenen. Dreizehn Tage war ich im Gefängnis von Mulhouse und jeden Tag gab es Verhöre. Am 13. Mai 1941 - die Dokumente habe ich bei den Behörden gefunden - wurden wir zwölf Homosexuellen ins Lager Schirmeck gefahren. Man sagt, dass Schirmeck kein Konzentrationslager war, aber es war noch schrecklicher als ein Konzentrationslager. Alles, was dort geschah, auch die Hinrichtung meines Freundes, hat der Lagerkommandant, Hauptsturmführer Karl Buck zu verantworten. Buck hatte ein Holzbein und fuhr mit einem schwarzen Citroën sehr schnell im Lager herum. Man musste zur Seite springen, sonst schnallte er das Holzbein ab und verprügelte einen damit. Ein schönes Theater!" S echs Monate war Seel im sogenannten "Erziehungslager" Schirmeck und im KZ Struthof/Natzweiler.
Eines morgens mussten alle Häftlinge einer entsetzlichen Hinrichtung beiwohnen - das Opfer war Seels Freund Jo, der auch im Lager war. "Meine erste Liebe war zum Tode verurteilt worden aus Gründen, die ich nicht kenne." Alle Gefangenen mussten auf dem Hauptplatz antreten, dazu gab es Musik. An "deutsche Musik", erinnerte sich Seel im Gespräch. "Wagner, etwas Militärmusik auch. Ich stand vielleicht zehn Meter von meinem Freund entfernt. Man hat ihn nackt ausgezogen, einen Eimer auf den Kopf gesetzt und die deutschen Schäferhunde losgelassen. Er wurde vor unseren Augen von den Hunden zerrissen und gefressen. Überall war Blut. Was ich nicht verstehe: Keiner der Überlebenden hat nach 1945 über diese Sache gesprochen - und ich auch nicht. Heute denke ich, ich hätte schreien sollen: Die Nazis hatten meinen Freund getötet! Ich habe es nicht getan, weil es eine homosexuelle Angelegenheit war." Kommandant Buck wurde nach 1945 bei einem Tribunal in Metz zum Tode verurteilt, aber schließlich vom französischen Präsident begnadigt. Er starb im Alter von 82 Jahren "in einer großen Villa im Schwarzwald", so Seel.
Wenn der vor wenigen Tagen im südfranzösischen Toulouse ebenfalls im Alter von 82 Jahren gestorbene KZ-Häftling Pierre Seel in den letzten Jahren wieder die Sprache seiner Jugend sprach, entschuldigte er sich gleich zwei Mal: Für sein lupenreines aber vermeintlich "schlechtes" Deutsch elsässischer Färbung und für seine schlechte Artikulation: "Ich kann nicht so gut sprechen". Weil ihm, was er aber nicht sagte, die Nazi-Folterer mit einem Gewehr den Kiefer zertrümmert hatten. Doch der Torturen nicht genug. Nach der Entlassung aus dem KZ wurden Seel im September 1942 zur Zwangsarbeit im NS-Reichsarbeitsdienst verpflichtet. Danach trieb ihn die NS-Kriegsmaschinerie durch ganz Europa. Von Oktober 1942 bis zum August 1945 mussten er in der Wehrmacht dienen und kamen an die russische Front bis nach Odessa. Weitere Stationen waren Thessaloniki, Belgrad und Zagreb. Ob er jemals eine finanzielle Entschädigung für Haft und Zwangsarbeit erhalten habe? "Das ist ein Problem im Elsaß. Die einen sagen: Du warst kein Franzose, du warst Deutscher, als die Gestapo ich verhaftet hat. Die anderen sagen: Das Gebiet ist französisch, also kann das nur die Politik und die französische Regierung etwas machen."
Jahrzehnte hat es gedauert, bis Seel den Mut faßte, überhaupt eine Entschädigung zu verlangen. "Homosexualität war eine große Sünde. Das hat mir den Mund verschlossen. Manchmal weinte ich zu Hause oder auf der Arbeit." 1950 hatte er in Paris geheiratet. "Eine schöne Frau" mit der er vier Kinder bekam. "Ich habe 28 Jahre mit der Mutter meiner Kinder gelebt und nichts gesagt. Können Sie sich das vorstellen?" Beruflich habe er "als Geschäftsführer gearbeitet. Nein, Führer war ich nicht, Direktor ist das bessere Wort. Ich war Direktor eines Textilgeschäfts in Paris und Rouen, überall hat man mich gern gehabt." Doch das Sprechen war unmöglich. "Ich war nicht tot, aber wie eine Statue, die nichts sagen kann. Ich glaubte immer, dass man meine Sünde auf meinem Gesicht lesen kann. Als ich 1945 nach Mulhouse zurückkam war ich sehr, sehr müde. Ich wollte meinen Eltern nicht noch andere Probleme machen. Ich wollte hauptsächlich arbeiten. Deswegen habe ich geschwiegen, habe vierzig Jahre mit einem Taschentuch vor dem Mund gelebt."
Bis zu jenem 28. November 1982. Damals - er war schon von seiner Frau geschieden und lebte in Toulouse - gab es in Straßburg ein Treffen der internationalen Homosexuellenorganisation
"International Lesbian and Gay Association". Dessen Teilnehmer hatte der Bischof von Straßburg, Léon-Arthur Elchinger als "infirme", körperbehindert, bezeichnet. "Das hatte ich im Radio gehört und ich sagte mir: Alles kann ich annehmen, nur das nicht. Wenn der Bischof von Straßburg ein Nazi ist, das kann ich nicht annehmen. Also schrieb ich diesen offenen Brief an den Bischof, in dem ich mitteilte, dass ich als Homosexueller in Schirmeck war." Den gleichen Brief schickte per Einschreiben auch an seine Ex-Frau, seine Kinder, seine Geschwister sowie an verschiedene Zeitungen.
In dem Brief an Elchinger heißt es: "Als Opfer des Nazismus verurteile ich öffentlich und ganz nachdrücklich, dass jemand mit einer derartigen Äußerung die Ermordung von Millionen Körperbehinderten aus politischen, religiösen und rassischen Gründen, oder wegen eines bestimmten sexuellen Verhaltens begünstigt und rechtfertigt. Ich bin kein Körperbehinderter und ich leide auch an keiner Körperbehinderung. Ich habe keine Lust, auf die Krankenstation zurückzukehren, auf denen man meine Homosexualität behandelt hat ... Das war 1941. Ich war erst achtzehn Jahre alt. Man hat mich verhaftet, gefoltert und geschlagen; ich wurde ohne jedes Gerichtsverfahren und ohne Verteidigung, ohne Prozess und ohne Verurteilung erst ins Gefängnis und dann interniert ... Seither steht mein gesamtes Leben unter diesem schrecklichen Schmerz, in dem auch meine Familie aufgrund der willkürlichen Verhaftungen einbezogen wurde. Ihre Erklärung … hat in mir unendlich viel fürchterliche Erinnerungen geweckt, so dass ich im alter von 59 Jahren beschlossen habe, nicht mehr anonym zu bleiben."
Was Seel zeitlebens schmerzte war, "dass niemand aus meiner Familie auf meinen Brief reagierte. Nicht meine Brüder, nicht meine Schwester, meine Schwägerinnen, meine Kinder, die Frauen meiner Kinder und meine Frau. Niemand hat gefragt: Was ist das für ein verrückter Brief, den du dem Bischof schickst? Sie hätten mir zur Hilfe kommen sollen! Aber niemand hat mir geholfen." Und Bischof Elchinger habe auf den Brief auch nie geantwortet.
Hatte er für sein Schweigen furchtbar bezahlen müssen, musste er es für sein Sprechen nun nochmal. "Mir war klar, dass ich für die Homosexualität ein Zeugnis ablege und das hat mich von meiner Familie getrennt." Seine beiden Söhne kämen nach Jahren der Distanz langsam wieder auf ihren Vater zu, "aber meine Tochter habe ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen. Das ist sehr schwer für mich. Ich habe sechs Enkelkinder, aber von diesen kenne ich nur eines." Im Frühjahr 1994 - mehr als zehn Jahre nachdem er sein Schweigen brach - erschien unter dem Titel "Moi, Pierre Seel, Déporté Homosexuel" seine zusammen mit dem Schwulenaktivisten Jean Le Bitoux zu Papier gebrachte Lebensgeschichte. Am 1. Juni des gleichen Jahres wurde Seel offiziell als Deportierter des NS-Regimes anerkannt. Als bis heute einziger Homosexueller in Frankreich. Schwulengruppen haben unterdessen in Regierungsarchiven recherchiert, dass mindestens 207 Männer nachweislich allein aufgrund ihrer Homosexualität verhaftet und deportiert worden waren. Erst vor wenigen Jahren gestand die Regierung ein, dass es solche Fälle überhaupt gegeben haben könnte.
Seel sollte, obwohl er in den Medien immer wieder seine Leidensgenossen aufrief, ihre Geschichte öffentlich zu machen, der einzige Homosexuelle bleiben, der über seine Schrecken während der deutschen Besatzung Zeugnis ablegte. "Ich bekam nur zwei Anrufe, nachdem ich in Frankreich im Rundfunk gesprochen hatte. Ein anonymer Anrufer aus Lyon entschuldigte sich bei mir, dass er mir nicht helfen kann - denn ich hatte immer gesagt, dass die anderen, die nichts sagen, keine Courage haben. Ein Zeugnis reicht nicht, wenn man mehrere hätte, wäre es besser. Der Mann sagte mir, seine Familie habe mit den Deutschen in Lyon kollaboriert und deswegen könne er sich nicht öffentlich äußern. Ein anderer Anrufer sagte, er wolle seine Familie nicht verlieren und wünschte mir viel Glück." Von französischen Staat erhielt Seel eine Entschädigung in Höhe von etwa 1.500 Euro und eine kleine Opferrente. Aber seit 1945 müsse er "mit dem KZ im Herzen weiterleben" und das könne ihm niemand bezahlen.
Das offizielle Frankreich hatte zum einzigen offiziellen homosexuellen NS-Deportierten ein unklares Verhältnis. "1996 hatte ich mich zum 28. April, dem offiziellen Gedenktag, in Rouen als Teilnehmer angemeldet, weil ich dort lange gearbeitet und gelebt hatte. Ich wollte nicht immer nach Paris. Zur Zeremonie kamen die ehemaligen Deportierten, die alten Widerstandskämpfer mit ihrer Fahne, der Bürgermeister und viele Offizielle. Aber bevor die Zeremonie anfing, sagten einige der alten Leute: Wir bedauern, wir können nicht an dieser Veranstaltung teilnehmen wegen des Homosexuellen - und das war ich. Ich ganz allein. Das passierte in Frankreich und ich bin ein Franzose! Das war schrecklich für mich. Später sind mehrere Leute zu mir gekommen und haben sich entschuldigt, aber die anderen blieben weg." Um auf das Schicksal der homosexuellen NS-Opfer aufmerksam zu machen, schickte er Anfang September 1996 dem damaligen Staatspräsidenten Francois Mitterand ein Telegramm, das mit zwei deutschen Worten begann: "Totgeschlagen - Totgeschwiegen".
Ende September 1996 schließlich reiste Seel als geladener Zeitzeuge zu einem von der saarländischen Landeszentrale für politische Bildung ausgerichteten Fachkongress über die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich nach Saarbrücken (vgl. u.a. Ruder Dirk: "Schwuler Historikerstreit", in junge Welt, Wochenendbeilage vom 2./3. November 1996). Eigentlich hatte er nie wieder nach Deutschland kommen, geschweige denn deutsch sprechen wollen. "Ich wollte nicht nach Saarbrücken kommen. Ich hatte Angst, die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Mein Freund rief mich am Morgen vor der Abfahrt an und fragte: 'Bist du bereit?' Ich sagte: 'Nein, ich will nicht gehen'. Da kam er vorbei und hat mich ganz energisch in den Zug geschoben: "Du musst gehen, deine Geschichte muss man auch in Deutschland wissen!" Ich hatte Angst, in Deutschland wieder Uniformen zu sehen, Gestapo und so weiter. Aber ich sehe, dass alle Leute freundlich sind - und niemand hat mich gefressen."
In Nachrufen würdigten französische Gruppen Seel als einen "unermüdlichen Aktivisten", der sich trotz seiner schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung nie habe entmutigen lassen. Das Schwulenmagazin "Têtu" schrieb, die Homosexuellenbewegung habe ihren im Wortsinne "einzigen Zeugen verloren". Das französische Staatsfernsehen zeigte Bilder, wie Seel bei einem Besuch des ehemaligen KZ Struthof. Nicht selten von Weinkrämpfen gepeinigt hatte er tapfer immer wieder vor Jugendlichen von Haft und Folter berichtet.
Doch die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf Seel waren nicht durchweg ungeteilt. Nach einem Fernsehauftritt in den neunziger Jahren wurde er von rechten Jugendlichen auf offener Straße verprügelt. Ein anderes mal sprühten Unbekannte Hakenkreuze an seine Wohnungstür und schmähten ihn in großen Lettern als "pédé", Schwuchtel. In der Nacht zum 25. November ist Pierre Seel der alten und neuen Nazibrut für immer entkommen.
Die hier teilweise zitierten Passagen entstammen Interviews, die der Autor des Nachrufs und der schwule Fernsehjournalist Matthias Frings im Herbst 1996 auf dem erwähnten Kongress zur Homosexuellenverfolgung in Stuttgart unabhängig voneinander mit Pierre Seel führten. Mit freundlicher Genehmigung von Matthias Frings redaktionell zusammengefügt sind beide Interviews unter dem Titel "Das Schweigen und das Sprechen habe ich teuer bezahlt", erstmals im Mai 2002 erschienen ist in Heft Nr. 19 von "Gigi - Zeitschrift für sexuelle Emanzipation", deren Redakteur Dirk Ruder ist. Nähere Infos: www.gigi-online.de
Das Buch "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen" erschien 1996 im Kölner Jackwerth Verlag (ISBN 3-932117-20-4) und ist derzeit nur noch antiquarisch erhältlich, im Internet etwa über das "Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher" unter www.zvab.de.
Hingewiesen sei hier auch auf das einstündige Radiofeature "Pierre Seel - deportiert und vergessen" von Christine Werner, das unter anderem am 13. Dezember 2000 um 21 Uhr im Südwestrundfunk lief.
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