«ART-naive Patienten, die ein virologisches Versagen zeigten»
«Patienten, die mit einer fortgeschrittenen HIV-Infektion versehen sind»
«Patienten, die unter 50 Kopien landen»
«60% der Abbrüche wegen Verträglichkeit des Therapie-Regimes»
«stark fortgeschrittene Patienten»
«doppelt geboostete Doppel-PI».
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Jedes zweite Jahr seit 1998 gab es «HIV im Dialog» als dreitägige Konferenz, nun bereits wieder nach einem Jahr, dafür als Eintagsfliege, «Symposium» genannt. Ehedem war dies ein Mix aus mehreren Komponenten: einer Ersatzveranstaltung für die Bundespositivenversammlung, die sich die Deutsche AIDS-Hilfe nicht mehr jährlich leisten mochte, einer Kopie der «Münchner AIDS-Tage», da es auch in der Hauptstadt ambitionierte Fachleute gibt, die ihren Namen gern verbunden mit einer regionalen Konferenz in den Medien sehen, sowie dem verständlichen Interesse der veranstaltenden Institutionen, öffentliche Aufmerksamkeit im Streit um verknappte Ressourcen zu heischen.
Die Anzahl versammelter «bundespositiver» Gäste nahm stetig ab, während sich der Einfluß der finanzierenden Pharmakonzerne analog erhöhte. Die stets aufs Neue unberücksichtigte Kritik der Basis am medizinlastigen, betroffenenfernen Konzept erreichte ihren Höhepunkt 2004: erst auf Initiative des Positivenplenums der mitveranstaltenden Berliner AIDS-Hilfe fanden die im Werbeflyer als Akteure des sogenannten Dialogs nicht genannten HIV-Positiven nachträglich (!) Berücksichtigung.
Vergessen ist ansteckend, Teil 1
«Vergessen ist ansteckend» titeln nun die einladenden Vertreter von niedergelassenen Ärzten, Epidemiologen, Klinikern und AIDS-Hilfe (nein, Frauen sind wirklich keine dabei!), und beweisen dies umgehend durch die Programmgestaltung für 2005: HIV-Positive werden nun zwar an erster Stelle im beabsichtigten «unmittelbaren Dialog» erwähnt, doch der Tag ist förmlich vollgestopft mit Referaten und Podien von Fachleuten, die keinem Dialog Raum lassen. Die meisten Veranstaltungen laufen als Frontalbeschulung ex kathedra vor 50 bis 120 Zuhörenden (der höchsten gleichzeitigen Teilnahmezahl) in ordentlichen Stuhlreihen ab.
Mein besonderer Dank gilt dem Arzt, der ankündigt, wie er «seine 25 Minuten» füllen will. Nun kann ich kombinieren: eine Stunde abzüglich zweier schnell runtergeleierter Referate à 25 Minuten macht (nur ohne Überziehung) je 5 Minuten höchstens für Rückfragen und so kommt es dann auch! Der «unmittelbare Dialog» entpuppt sich schnell als medizin-pharmazeutischer Monolog. Kostproben der (nicht nur) sprachlichen Zumutung gefällig?
Frauen kommen nicht vor
«ART-naive Patienten, die ein virologisches Versagen zeigten» (nein, nicht etwa das Medikament!), «Patienten, die mit einer fortgeschrittenen HIV-Infektion versehen sind», «Patienten, die unter 50 Kopien landen», «Therapien ohne Nebenwirkungen kaum vorstellbar», «60% der Abbrüche wegen Verträglichkeit (sic!) des Therapie-Regimes», «stark fortgeschrittene Patienten» (alle immer männlich!) oder, mein persönlicher Favorit, «doppelt geboostete Doppel-PI». Frauen kommen nicht vor, der Referent dankt sensibel «für Ihre Geduld», die Rückfragen kommen von Fachkollegen. Da fällt die Entscheidung leicht, es meiner langzeitpositiven Freundin Franceska nachzutun und den nach dem Mittag folgenden Medizinblock gleich als Ersatz für die viel zu kurz bemessenen Pausen zum individuellen «unmittelbaren Dialog» zu nutzen!
Bleiben noch die Podien, z. B. das zu Aufgaben und Kompetenzen in der Patientenberatung. Nein, auch hierzu referieren keine HIV-Positiven aus eigener Erfahrung, wiewohl sich der HIV-Referent der Berliner AIDS-Hilfe als solcher outet aber er sitzt qua Funktion dort! Neben wenigen Wortmeldungen von Hauptamtlichen aus dem AIDS-Feld ist Franceska die einzige, die sich als «nur» HIV-Positive äußert schön, daß ich sie überreden konnte, mich zu begleiten, doch einen Dialog oder gar die Überprüfung der Beratungsstandards durch versammelte «HIV-positive» Erfahrungskompetenz garantiert dieser Zufall natürlich auch nicht.
Vergessen ist ansteckend, Teil 2
Kurios verläuft dann die erste Veranstaltung, die nicht «Hoffmann-La Roche», «Gilead» oder «Boehringer Ingelheim» heißt, sondern schlicht «Prävention», mit dem Zusatz «Herausforderung durch Normalisierung?». Während die hochsommerlich stickige Luft im nicht klimatisierten Roten Rathaus immer unerträglicher wird (wie soll das erst in Abendrobe auf der anschließenden Gala werden?), entfalten acht schwule Männer auf dem Podium das Panoptikum der langsam «vermehrt ungeschützten Sexualkontakte» zwischen Männern. «Bestimmte Szenen mit härterer Gangart» nähmen erkennbar - wenn auch «nicht wissenschaftlich messbar» - zu, Szenen differenzierten sich aus, irrationales Verhalten und Fehlinterpretationen erfolgten statt Kommunikation, die Motivationsforschung sei unzureichend.
An dieser Stelle unterbricht Franceska die Runde mit der völlig irritierten Frage, wieso es hier nur um Schwule gehe, was so im Programm nicht angekündigt sei. Die moderierenden schwulen Mitveranstalter erklären, da habe sie wohl das Kürzel MSM übersehen (Männer, die Sex mit Männern haben/suchen), das seien immerhin 80% der Neuinfektionen in Berlin, und das sei doch nicht nur für Schwule interessant...
Der Geschäftsführer der Berliner AIDS-Hilfe dankt für den Hinweis, daß die Ausschreibung nicht deutlich genug gewesen sei. Ich hingegen erinnere mich an einen identischen Verlauf im Vorjahr (nur mit anderen irritierten Frauen). «Vergessen ist ansteckend»?
Vergessen ist ansteckend, Teil 3
Der Vertreter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung glaubt allen Ernstes, das Thema sei heute «zu 90% in den Schulen», während eine Vertreterin der Frankfurter (Main) AIDS-Hilfe an der Grenze zur Großelterngeneration sich fragt, wie sie den Zugang zu jungen Leuten schaffen könne, z. B. durch «Erlernen neuer Sprache(n)». (Da war ja die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit schon vor zehn Jahren weiter mit ihrem Modell des «Peer-Envolvements» von freiwilligen jugendlichen MultiplikatorInnen!)
Nach gut einer Stunde und ganzen 5 Beiträgen aus dem Publikum folgt die Schlußrunde ohne klare Ergebnisse, da mangels Zeit «viele Punkte nur angerissen» werden konnten, wie ein Moderator feststellt. Immerhin sind alte Werte, Solidarität, eine Politik jenseits der Homoehe sowie eine breit von allen getragene, authentische, ehrliche, stimmige, nicht dramatische Prävention mit zielgruppenspezifischen Angeboten angemahnt worden. Im Westen nix Neues? Doch, das Klima hat inzwischen Saunaqualität erreicht, was verbunden mit dem leckeren warmen Essen und dem anschließenden Kaffee Unmengen von Schweißperlen hervorruft.
Leicht befremdet nehme ich in der Pause zur Kenntnis, daß die Positiven-SprecherInnen der Berliner AIDS-Hilfe (BAH), deren satzungsmäßige Aufgabe die Vertretung der Interessen von HIV-positiv Getesteten vor allem in der BAH ist, offenbar den Infostand betreuen müssen, an dem neben lauter Angebots-Flyern der BAH ausgerechnet derjenige über das Positivenplenum und die SprecherInnen selbst fehlt. Unglücklicher Zufall?
Wahrnehmungslücke mit System?
Im BAH-Flyer «Angebote AnsprechpartnerInnen» gibt es drei Spalten zu Beratungs-, Begegnungs- und Gruppenangeboten auch hier kein Wort über PositivensprecherInnen und plenum. Dasselbe gilt für den Flyer «20 Jahre Leben gestalten» zum BAH-Jubiläum, wozu der Verein per Hochglanzkarte Einladung und Dank an alle «Freunde, Förderer, Kooperationspartner und Mitarbeiter» (wieder nur Männer?) ausspricht, die Menschen mit HIV bzw. AIDS jedoch ebenfalls unerwähnt läßt.
Ich gewinne den Eindruck, daß diese Wahrnehmungslücke System hat, obwohl doch eigentlich die Zielgruppen, die Klientel im Sinne der Förderung von Selbsthilfe erste Priorität in der Perspektive der AIDS-Arbeit haben müßten. Doch diese erscheinen eher als Objekte sozialarbeiterischen Hauptamtlertums denn als eigenständige AkteurInnen. Wie soll und kann da Dialog ehrlich gemeint und möglich sein?
Nachmittags folgt eine Veranstaltung guten Willens über «Internationale Präventionsstrategien der Zukunft» mit VertreterInnen u. a. aus der Ukraine und Thailand. Angekündigt ist eine vergleichende Bestandsaufnahme zwischen Bundesrepublik und internationaler Ebene. Doch wie die ukrainischen berichten auch die deutschen ReferentInnen allein von ihrer (zugegeben verdienstvollen!) Aufbauarbeit in der Ukraine, von statistischen Entwicklungen und Handicaps.
Der thailändische Parlamentarier erzählt die nach anfänglichen Widrigkeiten erst spät einsetzende Erfolgsstory der dortigen Prävention. Er scheint am deutlichsten das Fehlen des Vergleichs, des von einander Lernens oder gar gemeinsamen Entwickelns zu spüren, und so erteilt er am Ende doch noch einige Ratschläge (was bekanntlich immer auch Schläge sind) in Richtung Ukraine. Doch dort wird bereits eine Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung übernommen, und inwiefern die dortige Situation überhaupt mit der hier oder in Thailand vergleichbar ist, bleibt ohnehin unklar.
Almosen der Pharmaindustrie
Peinlich ist dann der Auftritt eines Vertreters von Abbott, der ein für die Ukraine entwickeltes Präventionsplakat und einen Scheck seines Konzerns über die sensationelle Summe von 1.000 (in Worten: Tausend) Euro überreicht. Angesichts der Gewinnspannen der Pharmakonzerne im HIV-Bereich erfährt er nach einigen spontanen Unmutsäußerungen im Publikum die verdiente Kritik eines Vertreters von «Ärzte ohne Grenzen»,
der zugleich beanstandet, daß die Veranstaltenden diesem Auftritt ein Forum verschafft haben.
Abschließend wird unter dem Titel «HIV-Behandlung und Prävention» vor und mit etwa 50 Ausharrenden die Frage aufgeworfen, ob die HIV-Schwerpunkt-Praxen und -Ambulanzen ihre Klientelkontakte nutzen sollten, um Präventionsbotschaften zu vermitteln. Hier trat der einzige als HIV-Positiver geladene Referent auf, angekündigt allerdings nur als Vertreter der BAH. Praktische Erfahrungen konnte oder mochte auf Nachfrage aus dem Publikum niemand der anwesenden ÄrztInnen äußern.
Einig ist sich die Runde schließlich, daß medizinisches Personal grundsätzlich befähigt werden sollte und müßte, auf relevante Signale im Gespräch zu Sexualität und Prävention zu achten und diese zu thematisieren. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker ergänzt dies um die Anregung, daß aktiv nach Sexualität gefragt werden müßte, da sonst ohnehin nichts zu erfahren sei.
Für die folgende Veranstaltung, mutmaßlich schon 2006, bleibt zu wünschen, daß der selbst gesetzte Anspruch der Veranstaltenden, einen «unmittelbaren Dialog» zu organisieren, endlich und erstmals tatsächlich eingelöst werden wird. Hierzu wird es vermutlich unverzichtbar sein, die Haltung zu und den Umgang mit HIV-Positiven als gleichberechtigten PartnerInnen im gemeinsamen Bemühen um Gesundheitsförderung und Prävention in den eigenen Reihen und internen Strukturen der veranstaltenden Organisationen zu verändern und z. B. Selbsthilfe-Netzwerke der HIV-Positiven und ihrer An- und Zugehörigen als Mitveranstaltende auf gleicher Augenhöhe zu beteiligen. Erst dann könnte ein echter Dialog gelingen.
Würde zugleich der inhaltliche Einfluß der hauptsponsornden Pharmalobby zurückgedrängt, entstünde auch Raum und Kapazität zum Einbringen von Selbsthilfepotentialen in einen solchen Dialog.
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