Mit TINA nach 2010
(ein Redebeitrag zur gleichnamigen Agenda)


  
In einem Akt freiwilliger Unterwerfung stimmten die Delegierten des SPD-Parteitags am 1.6.2003 in Berlin für die Agenda 2010 ihres großes Vorsitzenden Gerhard Schröder. Die Partei wurde nach dem TINA (There is no alternative)-Modell zum Konsens geführt, während vor der Halle etwa tausend DemonstrantInnen für eine andere Welt warben. Corinna Genschel hielt den folgenden Redebeitrag für das Berliner Sozialforum auf der Kundgebung zum SPD Sonderparteitag.

  

   Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,

wir alle wissen, dass das Gesamtwerk Agenda 2010 den bislang größten sozialpolitischen Angriff darstellt, der seit Bestehen der BRD geplant wurde und sicherlich heute von der SPD verabschiedet wird. Ein Vormarsch neoliberalen Zuschnitts; ein Projekt, das von vornherein auf Ausgrenzung und Zerschlagung von Solidarstrukturen, auf Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben und Güter und auf die Umverteilung von unten nach oben angelegt ist.

Ob unter dem Druck leerer kommunaler Kassen - die u.a. in Berlin nicht nur wegen der Wendekosten, sondern auch aufgrund des Westberliner Klüngels und seiner Politik des in-die-eigene-Tasche-Wirtschaftens besonders leer sind - oder unter der Ägide weltweiter Konkurrenz, es wird eine Umstrukturierung im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich durchgesetzt, die ihresgleichen sucht. So sind in Berlin beispielsweise Schwimmbäder nicht mehr zu bezahlen. Sie werden zum Luxusgut, anstatt sie als Teil einer Kultur und Praxis des öffentlichen Raums zu begreifen. Feministische Einrichtungen werden geschlossen oder fallen einer Umstrukturierung anheim. Einrichtungen, die nicht nur Extra-Angebote für Frauen und Mädchen sind, sondern die die sozialen und politischen Folgen der hierarchischen Geschlechterverhältnisse zum Thema gemacht haben. Einrichtungen, die als notwendige Orte der Politisierung der Gesellschaft zu verstehen sind. Ähnliches gilt auch für die HIV/AIDS Arbeit und für erkämpfte Räume, in denen eine "Politik des Sozialen" entstanden ist. Politische Orte fallen also zunehmend weg, die an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sind, und die einem anderen Modell von Gerechtigkeit, Umverteilung und Politik folgen.

Sicher, dies sind alles nur einzelne Beispiele, und viele von euch denken sicher auch, dass dies doch Peanuts sind - Peanuts im Zeichen der großen Kahlschlagpolitik. Ich habe diese Beispiele aber genannt, weil sie zeigen sollen, wie schnell und massiv diese seit den 70er Jahren erkämpften Räume, politischen Modelle und alternativen Ansätze zurückgedrängt werden. Modelle, die über das kapitalistisch organisierte sozialstaatliche Modell hinausweisen. Gerade in Zeiten aber wie diesen, in denen nur von Sachzwang und leeren Kassen geredet wird, ist es wichtig, dass wir aus dieser Logik aussteigen. Es ist zentral, dass wir nicht nur das Schlimmste abwehren oder uns mit minimalen finanziellen Absicherungen oder einem engen Modell von Sozialpolitik zufrieden geben.

Ideen von einem guten Leben, von politischer Praxis und von dem, was wir unter Politik verstehen, sind in den letzten 30 Jahren mehr geworden. Und wir sollten dies nicht als Luxus der fetten Jahre abtun. Denn wenn wir weiterhin davon überzeugt sind, dass fremdbestimmte und schlecht bezahlte Lohnarbeit, dass Konkurrenz und geschlechtspezfische Arbeitsteilung ein gutes Leben verhindern, wenn wir Bildung, nicht nur als etwas verstehen, das auf schnelle, stromlinienförmige und verwertbare Abschlüsse hinausläuft, wenn wir Gesundheit denken als etwas, das nicht nur (eine zunehmend schlechte) Versorgung von Kranken und Pillenmedizin meint, sondern Gesundheit mit Fragen nach Gesundheitsförderung, Arbeits- und Umweltschutz, bezahlbaren und guten Wohnraum, mit der Möglichkeit selbstbestimmt über das Leben zu entscheiden, verbindet - wenn wir all das noch im Kopf haben, müssen wir die "soziale Frage" re-politisieren. Wir müssen ernst nehmen, was uns da als Politik und Leben geboten wird. Wir müssen uns auch gerade hier einmischen. Es geht uns um mehr als eine finanzielle Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Geteilte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit! Und eine Politik, die sich einfügt in eine gegebene politische und soziale Ordnung, schließt nicht nur viele aus, sondern bleibt dem Status Quo verhaftet.

Aber auch für die sozialen Bewegungen und ihre Erfolge sollten diese Rückschritte Erinnerungshilfen sein. Aufforderung dazu, unsere Politiken immer auch nach den gesamtgesellschaftlichen Perspektiven von Gerechtigkeit, den Prinzipien von Verteilung, der Produktion(-sverhältnisse) des gesellschaftlichen Reichtums und den Bedingungen von Politik zu befragen. Neoliberale Kahlschlagpolitik ist nicht eine besonders gemeine Politik, sondern Effekt einer globalen Kräftekonstellation, in der das transnational operierende Kapital derzeit erfolgreich lediglich seinem "natürlichen" Prinzip folgt, für sich möglichst profitable Bedingungen zu schaffen. Wenn sich soziale Bewegungspolitik in der Absicherung von Nischen und Teilbereichen zufrieden gibt, wenn sie sich gegeneinander ausspielen lässt und den sozialstaatlichen Umbau - wie jetzt durch die Agenda 2010 - nicht auch auf eigene Bewegungsspielräume und Perspektiven bezieht, entzieht sie sich langfristig selbst den Boden.

Seit einiger Zeit gibt es allerdings Versuche, die Kräfteverhältnisse zu verändern und eine Position links(-radikal) davon zu entwickeln. Dafür steht das Sozialforum. Seit nunmehr drei Monaten treffen sich in Berlin Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, politischer Gruppen und Einzelpersonen mit dem Ziel, hier in Berlin eine radikale emanzipatorische Perspektive gegen die neoliberale Politik zu entwickeln und auf eine aktivere, eingreifende und breitere Basis zu stellen.

Die Idee, Sozialforen gegen die neoliberal-kapitalistische Globalisierung zu bilden, entstammt einer weltweiten Bewegung: Diese ist entstanden als Reaktion auf die immer brutaler werdenden Verhältnisse weltweit, Verhältnisse, in denen die Millionen Opfer nicht mal mehr gezählt werden, weil sie nicht zählen, und in denen immense Finanzsummen, Sicherheits- und Militärapparate in die Regulierung von Flüchtlings- und Migrationsbewegungen investiert werden. Sie ist entstanden als Reaktion auf eine internationale Politik, die die Logik und Erfordernisse des Weltmarktes - und das heißt transnational operierender Unternehmen - zum Maßstab der Politik erklärt, die alle gesellschaftlichen Bereiche einer ökonomischen Logik unterwirft, und durch Deregulierung des Sozialen bestimmt ist sowie durch Privatisierung öffentlicher Güter und Aufgaben wie Wasser, Transport, Bildung und Gesundheit. Auch wenn sicher die Situation in den verschiedenen Ländern nicht einfach zu vergleichen ist - und auch nicht einfach verglichen werden sollte, denn das ließe die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Regionen und Kontinenten außen vor - gibt es doch vielerorten ähnliche Angriffe und Prozesse.

Sie ist aber auch entstanden als Reaktion auf die weltweite Begrenztheit der traditionellen Arbeiterbewegung, gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend zu verändern und über bisherige Gesellschaftsmodelle hinaus zu gestalten. So vereint sie wichtige Ansätze aus gewerkschaftlichen, feministischen und ökologischen Bereichen mit der Frage weltweit gerechter Verhältnisse. Ihre Stärke resultiert aus einer basisdemokratischen Verankerung, der Koexistenz und Diskussion verschiedener politischer Strömungen und der Zuspitzung politischer Konflikte. Sie versucht, diese mit den sozialen und politischen Fragen vor Ort zu verbinden und über bisherige Antworten und Modelle hinauszureichen.

Genau letzteres ist eine große Herausforderung. Es ist aber auch genau das Spannende an dieser neuen Politik von unten. Wir sind keine neue Bewegung oder Partei, und wir haben kein Parteiprogramm mit einfachen Lösungen. Nein, wir haben viele offene Fragen daran, wie eine Politik der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit, wie eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtums und Arbeit konkret verwirklicht werden kann.

Wir wissen aber, dass es nicht einfach die Verteidigung des Bestehenden sein kann! Wir wollen keine nationalstaatlichen Lösungen, die auf globalen Ausbeutungsprinzipien und einem Ausschluss all derjeniger beruht, die ökonomisch nicht von Nutzen sind. Und wir wollen kein Beschäftigungs- und Eigentumsmodell, in dem immer mehr Menschen noch mehr arbeiten, noch weniger Freizeit haben und sich immer weniger um gemeinschaftliche Belange kümmern zu können. Kein Modell, in dem einige immer besser von der Arbeit und der Armut der anderen leben können. Und wir wollen sicher kein politisches Modell, in dem die Gestaltung der Belange der Menschen an einige wenige delegiert und den Erfordernissen des Marktes und seiner Nutznießer untergeordnet ist.

Aber auch wenn viele Fragen offen sind, sind einige Antworten jetzt schon klar. Wir weigern uns, weiter vom Sachzwang des Marktes und eines als alternativlos hingestellten Modells unsere Politik diktieren zu lassen. Wir haben berechtigte Ansprüche auf ein gutes Leben, auf einen Anteil des gesellschaftlichen Reichtums, auf einen Zugang zu Bildung, Wohnraum, Kultur, Gesundheitsversorgung und Mobilität für alle. Wir kämpfen für eine radikale Umverteilung der Arbeit - der bezahlten und nicht bezahlten - und für eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Bildungs- und Gesundheitspolitik. Aus der Überzeugung, dass es niemanden gibt, der es schon richten wird, dass eine Politik, die nicht am Markt, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, an Gerechtigkeit und basisdemokratischer Gestaltung orientiert ist, von niemanden als von uns selbst entwickelt und erkämpft werden kann, stehen wir hier.

Wir brauchen eine starke, aus möglichst vielen Perspektiven zusammengesetzte politische Praxis. Denn nur so kann eine radikale emanzipatorische Alternative zum Neoliberalismus, gegen Armut und die Verschlankung des Politischen entwickelt werden. Wir brauchen politische Orte, um aus Resignation und Vereinzelung herauszukommen, Orte des Streits, um unsere Positionen zu schärfen, unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und Konflikte zuzuspitzen.

Agenda heisst Tagesordnung. Wir sagen nein zu dem, was uns in der Agenda 2010 auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wir wissen, dass eine andere Agenda möglich ist - nur müssen wir sie jetzt, gemeinsam und mit vielen mehr erkämpfen!

kim: Irgendwie kann ich der 2010-Kritik etwas abgewinnen, diffus habe ich auch etwas gegen die Agenda, doch kommt mir Corinnas Vortrag ein wenig so vor: "Jetzt stehe ich hier in meinem kaputten Haus, da regnet’s rein, dort Schwamm, die Fenster müssten neu verkittet werden und ich sage: Also wir brauchen ein neues Haus, ganz andere Materialien, welche die nicht in 20 Jahren wieder am Ende sind. Und auch andere Konzepte: Statt Fahrstühlen und Treppen vielleicht Rutschen - Bergaufrutschen. Die anderen der WG sagen, wenn schon renovieren, dann will ich aber Fußbodenheizung, der Rest ist mir egal. Die nächste: Lieber weniger Miete zahlen, ich wohn hier nicht ewig. ...  
Feinkostparanoia: Schwule und Lesben haben mit angefangen, hedonistische Trends zu setzen. Irgendwann feiern, irgendwann arbeiten - einpendeln auf einem Level, wo das Geld reicht. Kinderlose (das sind nicht nur L+S) sind doch heute die flexibelsten Arschkriecher in den Firmen, diese ganze dumme Medizin- , Kultur-, Info-, Servicegesellschafft kotzt mich an, doch leider hänge ich auch mitten drin. Und wieder ab in Club, mein Joint will "verdient" sein. Doch ehrlich ich gehe lieber Cola+Bier verkaufen als Hanf selber zu züchten.  
Ray Bradbury: Der Protest gegen die Agenda ist m.M.n. deshalb so schwach, weil er bisher keine Antwort auf die Frage dahinter geben kann: wie können marode öffentliche Finanzsysteme saniert werden? Der Bankrott der öffentlichen Hand wäre der Bankrott der Demokratie. Satt Wählern entscheiden dann Investoren oder (Welt)Bank-Kommissare. Damit schwindet aber auch der Einfluss der Politik, und das passt keinem Politiker. Deshalb wird die Agenda garantiert durchgewunken, auch mit Ströbeles Stimme.  
Franz B: Das Problem mit der Agenda ist ein ideologisches. Die Bewusstseins- und Gedankenformen sind so involviert in diesem dreisten Raubbau, dass niemand sich traut etwas anderes zu denken. Die Frage ist nicht: "wie können marode öffentliche Finanzsysteme saniert werden?" sondern: wie bekommen wir eine menschliche Welt mit einer solidarischen Gemeinschaft ohne ethnische Unterschiede oder geschlechtsspezifische Arbeitsteilung? Nur leider ist im heutigen Konsens, letzteres Ideologie und ersteres Vernunft. Dies gilt es vom Kopf auf die Füsse zu stellen.  
königsklasse: was heißt immer brutaler werdende welt, die war immer brutal. in den goldenen 70ern, in denen all die schönen freiräume erkämpft wurden nicht weniger, als heute. NUR: der wirtschaft ging es besser. auf kosten der zukunft, die wir langsam aber sicher werden berappen müssen. wir können nicht ewig auf pumo leben. nicht auf ausbeutung der armen länder (sog. dritte welt), nicht auf kosten der umwelt und nicht auf kosten künftiger generationen. wo genau gespaart wird, das bleibt zu diskutieren und man muss in der tat, wie corinna genschel, genau hingucken. jedoch sollte man, anders als corinna genschel, auch alternativen aufzeigen.  
Franz B: Nein das Sparen, können wir uns sparen. Das ist genau das Problem. Es kommt nicht darauf an alternative Sparräume aufzuzeigen. dDs ist Ideologie. Zu Recht sagst Du, dass die 70er nicht so rosig waren. Stimmt, es war Kapitalismus keynsianischer Prägung. In dieser Zeit gab es Begriff, wie "Haushaltskonsolidierung" oder das Ziel eines "ausgeglichenen Haushalts" noch garnicht. Die Ideologie hat sich gewandelt heute weiss jeder dumme Jouranlist "Arbeit ist zu teuer" oder "Lohnnebenkosten senken" und selbstverständlich "Der Sozialstaat ist nicht mehr zu finanzieren".  
Franz B: Es gibt nicht nur die harten makroökonomischen facts, und da ist klar was zu tun ist. Verdammt nochmal, wer makroökonomisch nur "alternative" Sparvorschläge machen will, bleibt dem neoliberalen Denken verhaftet. Im Übrigen wird hier immer die Mikroökonomie zum Handlungsrahmen für die Makroökonomie gemacht. Und wie wir wissen ist der Weltkapitalismus nicht nur selbstverwertender Wert, sondern Gesellschaft - eben Menschen.