Nach der Öffnung der sowjetischen Käseglocke über Russland quillt immer mehr surrealistischer Literatur-Glibber aus der Wolga. Vladimir Sorokins Roman "Der himmelblaue Speck" erregt die RussInnen auch noch fast 2 Jahre nach seinem Erscheinen. Die negativen Schlagzeilen machten das Buch zu einem Dauerbrenner der Bestsellerlisten.
Sorokin
Der Berkeleyer Queer-Guru Judith Butler müsste begeistert sein, von "Russlands neuem bad guy". Butlers "Gender Trouble" (Das Unbehagen der Geschlechter) erschien vor ca. einem Jahrzehnt. Mit der These "Geschlecht ist eine Handlung, kein naturgegebener Zustand" und der Infragestellung der Zweigeschlechtlichkeit als heterosexuell-normativem Konstrukt könnte sie Sorokins Lehrerin gewesen sein.
Worum geht's?
Sorokins himmelblauer Speck ist ein Angriff auf die russische Nationalseele. Jener hellblaue Speck wird in Sorokins Si-Fi-"Porno" aus Klonen von Dostojewski und Tschechow, Achmatowa und Nabokov, Pasternak, Platonow und Tolstoi gewonnen. Im chinesisch besetzten Sibirien von 2068 müssen die 89-prozentigen Klone der russischen bzw. sowjetischen SchriftstellerInnen Lyrik und Prosa niederschreiben. Dabei produzieren sie das Wundermittel; es lagert sich in ihnen ab. Zurück in die Zukunft; und gelandet wird 1954: Der Speck wird per Zeitmaschine dahin geschickt; und Sorokin dreht richtig auf: Langhaar-Hitler trifft Junkie-Stalin usw. Natürlich wollen sie sich die Droge teilen. PS: Der Krieg ging hier anders aus: Grossbritannien verlor.
Opulent und exzessiv fröhnt der Autor jeglicher Perversion - nichts für seichte Seelen. Private und gesellschaftliche Abartigkeiten werden operettenhaft verschmolzen. Szenerien von 007-Bond und Chaplin-Filmen fungieren mit Eisenstein-Ästhetik als Hintergrund. Sado-masochistische Gewalt-Phantasien werden in einer literarischen Hintergrundmelange aus Stalinismus und Nationalsozialismus ausgelebt. Grenzüberschreitungen als Kick. Appetitlich ist das ganz gewiss nicht. Ekel gehört hier zum Geschäft, und damit wird demontiert ohne wenn und aber: Kirche, Gulag oder Sprache - alle und alles bekommen ihr Fett weg. In epischer Breite werden Obszönitäten beschrieben. Während Eva Braun im Leopardenkleid dahinschreitet und Hitler es mit Stalins Tochter treibt, verziehen sich Stalin und Chruschtshow in den Berchtesgadener Funkerbunker, hier quasi das Arschloch Hitlers, und treffen das 500-kg-Monster Himmler, um den himmelblauen Speck zur noch grösseren Effektivität zu verhelfen. Nebenbei geht's immer wieder um die 3 F: Fäkalien, Ficken und Fressen von Kreml-Junkies und Folterknechten.
Die 14 Briefe des Dichterkloners an seine schwule Moskauer Liebschaft liegen schwer im Magen, und schnell stellt sich die Frage: Wie sehr darf Kunst provozieren? Sorokin wollte provozieren; das ist ihm auch gelungen - wahlweise Irrenanstalt oder Knast haben Kritiker für ihn parat. Die schrägen erotischen Gedankenexperimente sind ein Schlag in die erstarkende nationalstolze, fremdenfeindliche, homophobe Fresse Russlands. Der Schlag hat auch gesessen. Getroffen hat er eben das russisch-national-patriotische Lager wohl auch in sein Arsch. Denn goluboi heißt nicht nur himmelblau, sondern wird synonym für schwul, eher so wie "warmer Bruder" gebraucht. (Dumont /ISBN: 3770148819 / für € 24.80)
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Russlands Nationaldrall hat viele Gesichter
Wie in Deutschland, wo die Fremdenfeindlichkeit mit Leitkultur-Debatten, Einteilung in gute und schlechte Ausländer und ähnlich-stammtischfähigen Parolen gefüttert wird, ist's auch um Russland bestellt. Das gesellschaftliche Klima in der russischen Förderation wird bestimmt durch staatliche Großmachtträume, und die sind eine gute Basis für Rassismus.
Der aufkeimende völkische Hass gegen alles Nicht-Bluts-Slawische ist erschreckend. 20% der Bevölkerung des Nachfolgestaats der Sowjetunion bzw. des Nachfolgers des Zarenreichs gehören nicht zur russischen Ethnie. Mächtige tatarische und mongolische Völker wurden im Laufe der Geschichte dem russischen Megakulturkreis einverleibt. Mit dem realsozialistischen "Management by Champignon" (wer aufmuckt oder rausguckt, wird abgesäbelt) wurde das Problem im Zaum gehalten, jetzt spritzt's wie aus Eiterpickeln raus.
Mit der Perestrojka kam auch der wirtschaftliche Liberalismus und all seine Folgen, denn zum erträumten Wohlstand brachten es die wenigsten. Zur Enttäuschung über die ökonomische Situation gesellte sich auch eine wachsende Ablehnung der "freiheitlichen" Werte wie Menschenrechte und es begann eine Reorientierung auf einen starken Staat mit Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit. Kleineren Ethnien der Russischen Föderation drängen nun zu mehr Autonomie: Tschetschenien z.B..
Durch die westeuropäischen Medien geistern meist nur die Horrormeldungen nach eigenen Vorbildern wie die vom 21.04. 2001: "Aserbaidschanischer Teil des Marktes in Jasenevo von ca. 150 mit Eisenstangen u.ä. bewaffneten Kahlköpfen innerhalb 20 Minuten plattgemacht." - Das Schema ist bekannt: Bild vom Springerstiefel + böse Nazi-Skins-Nachricht = Rassismus; alle anderen bekommen den Persilschein. Doch das Problem sitzt auch dort in breiten Teilen der Bevölkerung: Die Putinjugend, wie der Zusammenschluss "Gemeinsam Gehen" (wegen ihrer Nähe zum Kremlchef) auch genannt wird, machte schon mal vor, was man zum Beispiel von moderner russischen Literatur hält.
Anfang 2002 stempelte sie in die missliebigen Werke "Zurück an den Autor". "Autoren wie Viktor Pelewin, Vladimir Sorokin und Viktor Jerofejew sind Dreck. Sie bringen maximalen Schaden für das russische Volk". Die Bevölkerung wurde aufgefordert, zwei Bücher der "schädlichen Autoren" (sic!) gegen einen Klassiker zu tauschen. Die 30 Stellen in Moskau, an denen umgetauscht werden konnte, wurden zwar nicht zahlreich genutzt, doch ... .
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