Krankheit und Konstrukt

von Alexis Jeremias, September 2000

Dass Krankheitsbegriffen immer etwas Konstruiertes anhaftet, ist keine neue Erkenntnis. Schließlich müssen aus der unendlichen Fülle und Variationsbreite individueller Zustände bestimmte Zeichen als pathologisch ausgegrenzt werden, um mit Hilfe plausibler Modelle die Spezifität einer einzelnen Krankheit herzustellen. Bei dem erworbenen Immunschwächesyndrom AIDS jedoch ist der Grad dieser Konstrukthaftigkeit um einiges höher anzusetzen als bei anderen Krankheiten. So existieren heute weltweit mindestens sechs verschiedene gültige Definitionen von AIDS, und es ist keine Ausnahme, dass sich AIDS-Diagnosen beim Überschreiten von Landesgrenzen verändern. Die verschiedenen Bestimmungen für AIDS spielen eine große Rolle für die konkurrierenden gesundheitspolitischen Modelle für Vorbeugung und Therapie. Biologische Modelle werden immer mehr zu Handlungsanweisungen nationaler und internationaler Politik. Dabei wird es wird zunehmend schwieriger, das Geflecht von Wissenschafts- und Herrschaftsdiskursen zu entwirren. Das biopolitische Dispositiv ist so wirkungsmächtig geworden, dass ein großer Teil der Linken die soziale Frage nicht mehr stellt und vielmehr versucht, die verzweifelten Schreie der durch AIDS mehrfach Stigmatisierten zu übertönen - mit Lobeshymnen auf die industrielle Medizin.

Definitionsmacht: AIDS oder nicht AIDS

Sämtliche AIDS-Definitionen gehen auf die US-Bundesbehörde Centers for Disease Control (CDC) zurück und wurden seitdem mehrfach verändert. In Europa kommt seit 1993 die Europäische AIDS-Falldefinition zur Anwendung. Dabei wird - einen positiven HIV-Antikörpertest (1) (s.u.) in der Regel vorausgesetzt - immer dann eine AIDS-Diagnose vergeben, wenn eine der derzeit zwanzig verschiedenen sogenannten AIDS-definierenden Erkrankungen (2) vorliegt, etwa ein Kaposi-Sarkom oder eine PCP, eine seltene Form der Lungenentzündung. Die Diagnose AIDS bleibt dann lebenslänglich bestehen, auch wenn sich das Kaposi-Sarkom zurückgebildet hat oder die PCP ausgeheilt ist.

In den USA gilt seit 1993 die sogenannte Erweiterte AIDS-Falldefinition: Menschen gelten zusätzlich dann als an AIDS erkrankt, wenn die im Blut gezählten CD4-Lymphozyten unter 200/µl absinken, auch wenn keine AIDS-definierenden Erkrankungen aufgetreten sind. Entsprechend zeigen die Statistiken der amerikanischen Gesundheitsbehörden bezüglich der in den USA gemeldeten AIDS-Fälle im Jahre 1993 einen deutlichen Knick nach oben - nicht aber die Zahl Erkrankten nahm zu, sondern die Diagnosekriterien wurden erweitert.

Im Gegensatz dazu werden in den meisten afrikanischen Ländern AIDS-Diagnosen nicht nur ohne HIV-Antikörpertest gestellt, sondern aufgrund völlig anderer Kriterien als in den Industrienationen. Im Jahre 1985 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter maßgeblicher Beteiligung der CDC eine AIDS-Falldefinition erarbeitet, die als »Bangui-Definition« bekannt wurde. Sie wurde 1994 leicht modifiziert und in WHO Falldefinition zur AIDS-Überwachung (3) umbenannt. Diese Definition ist auch heute noch gültig.

Während es sich in Europa bei den AIDS-definierenden Erkrankungen eher um seltene Krankheiten wie das Kaposi-Sarkom handelt, sind in Afrika unspezifische und weitverbreitete Symptome wie Durchfall oder Fieber in Kombination mit noch weniger spezifischen Symptomen wie Husten ausreichend zur Diagnose von AIDS. Es ist erstaunlich, dass eine Krankheit, die nach Luc Montagnier, dem Entdecker von HIV, »keine typischen Symptome hat« (4), in den Ländern des Trikont ausgerechnet aufgrund von Symptomen diagnostiziert wird.

In Ländern wie Südafrika, in denen Antikörpertests verfügbar sind und insbesondere an Schwangeren verstärkt durchgeführt werden, kann die Erweiterte WHO-Falldefinition zur AIDS-Überwachung angewendet werden. Auch sie unterscheidet sich deutlich von der in den Industrienationen verwendeten Definition.

Im Juni 2000 tauchte im Bericht der AIDS-Organisation der UNO (UNAIDS) die geschätzte Zahl von weltweit 34,3 Millionen Menschen auf, die als mit HIV infiziert oder AIDS-krank gelten. 25 Millionen Menschen sollen es allein in Afrika sein. Solche Zahlen werden von den Medien übernommen und bestimmen die metropolenchauvinistische öffentliche Wahrnehmung von "African AIDS". So auch während der XIII. Internationalen AIDS-Konferenz in Durban im Sommer diesen Jahres: Sämtliche deutschen Tageszeitungen veröffentlichten diese Zahl an prominenter Stelle. Nirgends jedoch wurde erwähnt, dass dabei unter dem selben Namen völlig unterschiedliche Phänomene zusammengefasst werden. So wird der Blick nach Afrika gelenkt, dem "schwarzen Kontinent", dem alles Ungeheure entspringen soll, so eben auch HIV, zumindest gemäß einer rassistischen westlichen Weltsicht.

Es ist bemerkenswert, welche Ergebnisse der UNO und ihrer Organisationen nicht in den Medien auftauchen. Zum Beispiel, dass der WHO-Bericht von November 1999 von nur 2,2 Millionen gemeldeten AIDS-Fällen spricht. Eine weitere Besonderheit bei AIDS/HIV: Es handelt sich um kumulierte Zahlen. Üblicherweise werden epidemiologische Daten als Neuerkrankungsrate pro Jahr dargestellt. Nur daraus wird deutlich, ob sich eine ansteckende Krankheit wirklich ausbreitet oder nicht. Die aufaddierten Zahlen in kumulierten Darstellungen hingegen nehmen stets zu, auch wenn immer weniger Menschen erkranken. Die Intention liegt auf der Hand: gezielte Desinformation und Panikmache.

Interessant ist nicht nur die Diskrepanz zwischen den geschätzten und den gemeldeten Fällen, sondern auch die regionale Verteilung. Ein Drittel der gemeldeten AIDS-Fälle entstammt allein den Vereinigten Staaten von Amerika - diagnostiziert nach US-Vorgaben. Dem gesamten afrikanischen Kontinent entstammt ein weiteres Drittel, basierend auf der WHO-AIDS-Definition für Afrika. Nach den harten US-amerikanischen oder gar europäischen Kriterien wären die Zahlen für Afrika weit geringer.

Die WHO weist selbst darauf hin, dass die von ihnen propagierte AIDS-Definition für Afrika wenig spezifisch ist, »insbesondere bezüglich Tuberkulose, weil HIV-negative Tuberkulosepatienten aufgrund ihres ähnlichen klinischen Bildes als AIDS-Fälle gezählt würden«. Tuberkulose gilt als Armutskrankheit und ist in Afrika sehr weit verbreitet.

Aber auch bei den in Europa und den USA benutzten HIV-Antikörpertests ist fraglich, ob damit HIV nachgewiesen wird. Der wichtigste Test, ein sogenannter Suchtest, ist der ELISA. Dieser Test, ebenso wie der Bestätigungstest Western Blot, bestimmt Antikörper im Blut als Ausdruck einer Reaktion des Immunsystems. Es existieren jedoch über 60 Krankheiten und Zustände, die ein positives Testergebnis hervorrufen können - darunter Infektionen und chronische Erkrankungen wie Tuberkulose, Hepatitis, Malaria, Systemischer Lupus Erythematodes, tropische Durchfälle oder rheumatische Arthritis, aber auch Bluttransfusionen, einige Impfstoffe und Schwangerschaft. Die meisten dieser Erkrankungen treten in Ländern mit mangelnder gesundheitlicher Versorgung wesentlich häufiger auf als in den Industrienationen (5). Daher ist dort auch ein deutlich höherer Prozentsatz falsch positiver Ergebnisse zu erwarten, insbesondere wenn nur mit dem ELISA getestet wird.

Bei dem erwähnten Western Blot existiert keine Einigung darüber, welche Kombination von Antikörpern, die als spezifisch für Bestandteile des HI-Virus gelten, zu einem positiven Testergebnis führt. Allein in den USA werden drei unterschiedliche Standards verwendet. Ist etwa in Deutschland jemand mit dem Western Blot HIV-positiv getestet, könnte er in Australien mit dem selben Teststreifen glücklich die Praxis verlassen, weil der Test dort negativ ausfällt. In Großbritannien wurde der Western Blot als ungenau verworfen. In den afrikanischen Ländern wird meist nur mit dem ELISA getestet.

Selbst die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schreibt in dem von ihr 1997 herausgegebenen Handbuch HIV-Test (6): »Die Interpretationsbedürftigkeit der Befunde sowie die statistische Fehlerbreite lassen in der Regel nur den individuellen Einsatz des Testes zu, denn letztlich ist nur dieser getestete Mensch in der Lage, das Ergebnis für sich zu bewerten und in seine Lebenssituation einzuordnen.«

Ein anderes Verfahren, die PCR, die zur Messung der sogenannten Viruslast benutzt wird, ist aufgrund seiner Ungenauigkeit zur HIV-Diagnostik nicht zugelassen und wird nur zur Verlaufskontrolle eingesetzt, zumindest in den reichen Ländern des Nordens. Die Durchführung einer PCR ist ausgesprochen teuer und verlangt gesonderte Laborräume mit High-Tech-Equipment . Kary Mullis, der für die Erfindung der PCR 1993 den Nobelpreis erhielt, stellte während der Preisverleihung klar, dass sein Verfahren zur Messung einer sogenannten Viruslast nicht geeignet sei.

Divergierende Konzepte - Drugs versus Development

Die gesundheitspolitischen Konzepte des Nordens setzen auf groß angelegte Kondom-Kampagnen, auf die Entwicklung eines spezifischen Impfstoffes (7) sowie auf massiven Einsatz antiretroviraler Medikamente (8).

Bezüglich eines neuen Impfstoffes gegen HIV werden seit Jahren immer wieder kleine Erfolgsmeldungen veröffentlicht. Dennoch ist es bis heute noch nicht gelungen, einen derartigen Impfstoff zu entwickeln, was angesichts der Unmöglichkeit, HIV zu isolieren, kaum verwundern kann. Begründet wird der Misserfolg mit der Mutationsfreudigkeit des Virus.

Die sogenannte hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) mit drei oder mehr Medikamenten ist in den Industrienationen heute Standard. Dazu zählen vor allem die sogenannten nukleosidalen (9) Reverse Transkriptase Hemmer, etwa die Substanz AZT, und die 1996 eingeführten Proteasehemmer.

Alle antiretroviralen Medikamente haben schwere unerwünschte Wirkungen, die von Nervenschäden und Anämie über Gerinnungsstörung bis zum Herzinfarkt reichen. Besonders gefürchtet ist das sogenannte Lipodystrophiesyndrom, das bei 50% der mit Proteasehemmern behandelten Patienten auftritt und durch Stoffwechselstörung im Bereich des Zucker- und Fetthaushalts gekennzeichnet ist (10). Zusätzlich werden die PatientInnen durch eine enorme Verminderung des Unterhautfettgewebes, vor allem im Gesicht, stigmatisiert.

Die unerwünschten Wirkungen müssen engmaschig kontrolliert werden, ebenso diejenigen Laborparameter, an denen die Wirksamkeit der HAART festgemacht wird. Allein diese Kontrollen sind so teuer, dass ihre Einführung sämtliche Gesundheitsbudgets afrikanischer Staaten sprengen würde. Für eine entsprechende Nachsorge - auch zur Kontrolle und Behandlung der unerwünschten Wirkungen - fehlt in den meisten Gebieten jegliche Infrastruktur. Dies wird meistens übersehen, wenn die breite Verteilung dieser Medikamente gefordert wird. In Europa und den USA sind vor allem in den 80er Jahren bereits Tausende an den Folgen der Anti-HIV-Medikamente gestorben. Dies wird sich in medizinisch unterversorgten Gebieten noch dramatischer auswirken.

Selbst Donna Shalala vom US-Gesundheitsministerium erklärte, dass bereits jetzt die bestehende gesundheitliche Infrastruktur schwer beeinträchtigt werde. »Alle finanziellen Mittel fließen in die AIDS-Behandlung, so dass nichts übrig bleibt für andere Krankheiten«, sagte sie im Juni, um dann Bedenken ganz anderer Art zu äußern: »Eine bröckelnde Gesundheitsstruktur führt zu bröckelnder Stabilität (...). Daran wird klar, wie wichtig es ist, diese Seuche zu bekämpfen, und warum die USA so viel Wert darauf legen, AIDS als ein Frage der nationalen Sicherheit zu betrachten.« Dies und nicht menschliches Mitgefühl ist sicherlich auch der Grund, warum sich die westlichen Regierungen daran beteiligten, die großen Pharmakonzerne dazu zu bewegen, ihre Produkte mit 80-90%igem Preisnachlass den jeweiligen afrikanischen Staaten anzubieten. Darauf gingen die Firmen jedoch erst ein, nachdem WHO-Generaldirektorin Gro-Harlem Brundtland zugesichert hatte, daß der Patentschutz für Arzneimittel unangetastet bleibt.

Diese Position wird auch von der US-Regierung gestützt (11). So fließen die großzügig gespendeten Milliardenbeträge des Nordens zurück in die eigenen Ökonomien. Zwischen 1997 und 1999 konnten die KonzerneGlaxo-Wellcome und Bristol Myers Squibb allein mit den Substanzen AZT, 3TC, ddI und d4T 4,3 Milliarden US-Dollar Gewinn einfahren (12). Ein lukratives Geschäft, das sich bei angeblich 25 Millionen HIV-Infizierten in Afrika auch bei 90% Preisnachlass rechnet.

Vermehrt wurden in afrikanischen Staaten jetzt kritische Stimmen laut. Die südafrikanische Gesundheitsministerin Tshabalala-Msimang hält die HAART für zu teuer: »Die antiretrovirale Dreifachtherapie ist komplett unbezahlbar in unserem Kontext, selbst wenn es einen 80%igen Preisnachlass gäbe.« - »Wir glauben, dass es viele Faktoren wie Armut und Mangelernährung gibt«, sagte sie im Juni gegenüber dem südafrikanischen Parlament , »die in den Entwicklungsländern einen entscheidenden Einfluss [auf die Entstehung von AIDS] haben.«

Der gleichen Meinung waren nicht nur ein Drittel der Mitglieder der internationalen Beratungskommission des südafrikanischen Präsidenten, sondern auch die Delegierten der Ersten Internationalen Ganzheitlichen AIDS-Konferenz, die Ende August in Nkozi (Uganda) stattfand.
»Es gibt in Afrika wie in anderen Teilen der Welt viele bekannte Gründe für Immunschwäche«, heißt es in der Abschlusserklärung. »Diese beinhalten Mangelernährung, Malaria, Tuberkulose und andere chronische bakterielle und parasitäre Erkrankungen. Wirtschaftliche Unterentwicklung, politische Instabilität und Kriege haben in vielen afrikanischen Staaten zu sozialen und familiären Zusammenbrüchen geführt, zu Armut, Arbeitslosigkeit sowie überfüllten und sanitär unzureichenden Wohnverhältnissen. Medikamente werden vielfach unangemessen eingenommen, dazu kommt ein hohes Maß an Drogenmissbrauch. Weiterhin ist ein Anstieg von Geschlechtskrankheiten zu verzeichnen und von medizinisch unkontrollierten Abtreibungen. All dies kann dazu beitragen, das Immunsystem zu schwächen. Wir schließen außerdem die Möglichkeit nicht aus, dass Impfstoffe zur Entstehung neuer Krankheiten beigetragen oder in anderer Weise die Gesundheit der Menschen beeinträchtigt haben« (13).

Mit Impfungen hat die WHO einschlägige Erfahrungen. So bestätigt die Gesundheitsbehörde in einer 1997 erschienenen Publikation, dass »weltweit jährlich 12 Milliarden Injektionen« verabreicht werden, »mindestens ein Drittel [davon] ohne ausreichende Sterilisation, wodurch möglicherweise Krankheiten übertragen werden«, besonders in Afrika, wo »mehr als 80% der Einmalspritzen mehrfach verwendet werden« (14). Es ist fraglich, ob durch solche Praktiken Krankheiten wirklich verhindert oder nicht vielmehr übertragen werden. Zudem sind Impfungen an unterernährten und bereits kranken Menschen nicht ungefährlich, da deren Immunsystem bereits geschwächt ist.

Wird das gängige HIV/AIDS-Modell zugrunde gelegt, müsste in solchen Massenimpfaktionen eine der Hauptinfektionsgefahren bestehen. Angeschuldigt wird jedoch immer wieder die angebliche Promiskuität der afrikanischen Bevölkerung und deren angeblich bizarren Sexualpraktiken. Die Analogie zu zur Stigmatisierung von Schwulen im Zusammenhang mit AIDS ist hierbei auffällig. Aber es sind in Afrika nicht die Fixer und die Schwulen, die 90% der AIDS-Kranken ausmachen, sondern die heterosexuelle Mehrheitsbevölkerung. Als beispielhafte Erklärung dafür, warum das selbe Virus in Afrika andere Übertragungswege bevorzugt als in Europa, steht folgende Anmerkung aus dem Artikel »Die Bombe ist explodiert« aus der Zeit vom vergangenen Juni: Bei verschiedenen »Volksgruppen ist dry sex üblich. Die Frauen trocknen mit Baumrinde, Kräutern oder einem Gemisch aus Erde und Pavianurin ihre Vagina aus. (...) Die Polygamie ist weit verbreitet, und vielerorts wird noch das Brauchtum der Witwenvererbung gepflegt: Ein Bruder oder Vetter des Verstorbenen schläft mit dessen Frau, um sie von den Geistern des Todes zu reinigen.« Der Autor nennt weiterhin »ungeschützten Verkehr mit häufig wechselnden Partnern, frühe sexuelle Aktivität, die hohe Arbeitsmigration entlang der Hauptverkehrsachsen« als Kennzeichen, die afrikanische von europäischen oder US-amerikanischen Bevölkerungen unterscheiden soll (15).

Die lesbische AIDS-Aktivistin Cyndi Patton, die sowohl für die WHO als auch die CDC in AIDS-Projekten gearbeitet hat, schreibt hingegen zu Ergebnissen von Studien aus den 80er Jahren, die sich mit "afrikanischer" Sexualität beschäftigten: »Im allgemeinen war das Sexualleben von AfrikanerInnen enttäuschend gewöhnlich, und dies zerschlug sowohl die Hoffnungen auf wissenschaftliche Erklärungen epidemiologischer Unterschiede als auch die Fantasien westlicher Rassisten von exotischer sexueller Andersartigkeit« (16).

Auch die Delegierten der AIDS-Konferenz in Uganda wiesen die westlichen Erklärungsmodelle für die heterosexuelle Übertragung von HIV als rassistisch zurück. Sie forderten vielmehr: »Vorbeugung von Immunschwäche in Afrika muss die verschiedenen Ursachen mit einbeziehen. Angemessen wären die Annullierung lähmender Auslandsschulden, die Etablierung gleichberechtigter wirtschaftlicher Beziehungen mit den wohlhabenden Nationen, Verbesserung der Ernährungslage, Entwicklung sozialer und medizinischer Infrastruktur, insbesondere der Versorgung mit sauberem Wasser und sanitären Anlagen, Eindämmung der Umweltverschmutzung und Kontrolle der größten epidemischen Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose. Die Arbeit der Gesundheitsbehörden und AIDS-NGOs muss dementsprechend neu ausgerichtet werden. Vorschläge zur Reduktion der Mutter-Kind-Übertragung, namentlich durch Verabreichung antiretroviraler Substanzen an Schwangere und ihre Kinder müssen neu überdacht werden, ebenso die Substitution von Muttermilch durch industrielle Milchprodukte, da diese in armen Ländern die Säuglingssterblichkeit erhöhen und antiretrovirale Medikamente toxische Wirkungen haben (17). Frauen sollten zum ausschließlichen Stillen ermutigt werden.«

Schnittstellen

Bis zum heutigen Tag existiert kein Experiment und keine wissenschaftliche Studie, die eindeutig zeigt, dass AIDS durch HIV verursacht wird. Seit Robert Gallo, damals Mitarbeiter beim Nationalen Krebsinstitut der USA, im Jahre 1984 gemeinsam mit der US-amerikanischen Gesundheitsministerin vor die Presse trat und erklärte, er habe ein Virus isolieren können, das die Ursache für AIDS sei, gilt dieser Zusammenhang als gesichert. Eine normalerweise übliche vorherige wissenschaftliche Diskussion blieb aus. Selbst Luc Montagnier vom Pariser Pasteur-Institut fiel als Referenz für den wissenschaftlichen Nachweis eines Zusammenhanges zwischen HIV und AIDS nur der »CDC report« ein, der aber keine wissenschaftliche Fachzeitschrift ist, sondern das Organ einer US-Bundesbehörde, die selbst keine Nachweise führt (18).

Es kann nur spekuliert werden, warum alle anderen Erklärungsansätze von der überwiegenden Mehrheit in den Bereichen Wissenschaft, Medizin, Politik und Medien fallengelassen worden sind. Wie keine andere Krankheit hat AIDS einen Logenplatz an der Schnittstelle wirtschaftlicher, geopolitischer und medizinindustrieller Interessen bzw. von Sexualität, Seuchenangst und Tod.
»In dieser Kultur bestimmt die Art und Weise, wie wir über Krankheit denken, wer lebt und wer stirbt«, schreibt Evelynn Hammonds, eine schwarze, lesbische Aktivistin und Wissenschaftlerin. »Die Geschichte schwarzer Menschen in diesem Land [den USA] ist von Vorfällen durchsiebt, die zeigen, wie Konzepte von Krankheit, Gesundheit, Verhalten und Sexualität sowie ethnischer Zugehörigkeit [im Original: race] in die Definition von Normalität und Abweichung verflochten wurden. Die Macht, Krankheit und Normalität zu definieren, macht AIDS zum politischen Thema« (19).

Ein Großteil der Linken ist heute dazu übergegangen, Veröffentlichungen der Pharmaindustrie kritiklos zu übernehmen. Wenn beispielsweise in der Jungle World berichtet wird, »seit der AIDS-Konferenz 1996 in Vancouver hat die Einführung so genannter Proteasehemmer viele Krankheitsverläufe umgedreht. Proteasehemmer (...) unterdrücken in sehr effektiver Weise die Replikation des HI-Virus« (20), dann übertrifft die Autorin in ihrer Euphorie sogar die CDC. Denn sogar deren Mitarbeiter Dr. Scott Holmberg räumte auf der AIDS-Konferenz in Durban ein, dass durch die HAART unter Praxisbedingungen nur bei einem Drittel der Behandelten die Virusreplikation langfristig unterdrückt werde.

Auch wenn die Autorin weiter berichtet, in einem häuslichen Pflegedienst würden »40 Freiwillige rund 700 am AIDS-Vollbild Erkrankte« betreuen, übersieht sie dabei, dass "Vollbild AIDS" in Südafrika etwas ganz anderes ist als etwa in Deutschland. Und dass dieses "Vollbild AIDS" mit herkömmlichen Medikamenten zu behandeln wäre, würden die entsprechenden Krankheiten als das benannt, was sie sind (21). Auch das in der selben Zeitung geäußerte »Gefühl, in den USA und in Europa betreibe man erfolgreiche Prävention und Therapie, während für Afrika die Existenz der Krankheit bestritten wird« (22) bleibt ein Gefühl des Autors, da weder die HAART wirklich »erfolgreich« ist, noch von seiten der AIDS-Kritik die Existenz von Erworbener Immunschwäche »bestritten« wird. Und auch wenn der AIDS-Kritik noch so oft vorgeworfen wird, die Sicht von Betroffenen außen vor zu lassen, gibt es im Norden wie im Süden AIDS-PatientInnen oder HIV-positiv Getestete, die AIDS auf HIV zurückführen und solche, die dies nicht tun. Die Vereinnahmung von Betroffenen für eigene Zwecke ist zwar ein beliebtes Mittel der Linken, hilft aber in der Diskussion wenig weiter. Auch das ständige Jammern darüber, dass AIDS-Kritik den Zusammenhang zwischen HIV und AIDS »leugnet«, offenbart nicht nur die Ignoranz gegenüber wissenschaftskritischen Analysen von Wissensproduktion, sondern zeigt auch die argumentative Hilflosigkeit, in die sich jeder und jede begibt, der/die die gebetsmühlenartige Weitergabe des HIV-AIDS-Dogmas kritiklos hinnimmt.

»Oberste Priorität« für HIV und AIDS forderte kürzlich der selbe Autor in der Jungle World. Das ist wie Wasser auf die Mühlen der Bevölkerungsstrategen (23). Wenn die "Bevölkerungsbombe" schon nicht mit dem "Killervirus" zu entschärfen war, dann vielleicht durch das Spiel mit der Angst. So wird die bestehende Infrastruktur von "Familienplanungszentren" und Geburtsstationen genutzt, die Möglichkeit der empfängnisverhütenden Impfungen und Langzeit-Implantate um ein weiteres Produkt zu erweitern, das bisher sehr wenig Akzeptanz fand: das Kondom. Denn infolge der Propaganda "erfolgreicher" Therapie ausgerechnet mit AZT waren nicht nur »plötzlich alle Frauen bereit, ich testen zu lassen«, sondern brachten auch gleich »ihre Partner in die Kliniken mit, die sich ebenfalls testen ließen« (24). Für die "Familienplaner" eine unverhoffte Zugriffsmöglichkeit...

Angesichts der desolaten gesundheitlichen Situation und der realen Bedrohung von Millionen von Menschen durch behandelbare und vermeidbare Krankheiten ist es schon eigenartig, wenn sogenannte Linke aus den Metropolen in den Chor derer mit einstimmen, die plötzlich eine einzige Antwort auf jahrhundertelange Unterdrückung gefunden zu haben glauben: HIV.

Eine Zusammenfassung der südafrikanischen Debatte gibt Ilse Lass auf der Homepage von HEAL.