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Marx Homosexualität
Liebe LeserInnen:
Zeit für ein neues T-haus! Der Ausgangspunkt dieses Textes war der Aufsatz von Hubert Kennedy: Johann Baptist von Schweitzer: The Queer Marx loved to hate (Journal of Homosexuality, 4/1995, New York 1995). Dieser Aufsatz regte mich an, über zwei Jahre lang der Frage der marx-engelschen Antigleichgeschlechtlichkeit nachzugehen, sowohl anhand der Originalschriften, als auch anhand von Sekundärliteratur, sowie mit Hilfe der Internet-Suchmaschine "Stimmen der proletarischen Revolution" (www.ml-werke.de). Gleichzeitig habe ich in dieser Zeit Diskussionen mit Interessierten geführt, denen ich an dieser Stelle herzlich für ihre Kritiken und Anregungen danken möchte. Ich bitte auch für diese 3. Fassung, die ich jetzt bei etuxx als T-Haus Nr. 4 veröffentliche, ausdrücklich um weitere Kritiken und Hinweise. Mein Text erscheint wegen seiner Länge auch im PDF-Format. Wegen der Komplexität des Themas ist es möglich, dass der eine oder die andere schriftliche Kritik in längerer Form üben möchte. In einem solchen Fall bitte ich darum, mir an dire Redaktionsadresse zu schreiben bzw. zu e-mailen. Eventuell können solche Papiere dann insgesamt im nächsten T-Haus veröffentlicht werden. Und nun viel Spaß beim Lesen ...
Berlin, im Dezember 2005 Michael Hellmann
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t#archiv:
t#1
Harry Whites Entgegnung auf die Wiedereinführung der Strafbarkeit mann- männlicher Sexualität in der Sowjetunion [7.8.1934.], die auf Initiative des damaligen Geheimdienstleiters Jagoda iniziert wurde und Stalins prompte Zustimmung fand.
t#2
Queer Theory - Radikaler Aufbruch oder linkes Ticket für die Reise nach Rechts? Ein unvollständiger Versuch einer kritischen Auseinandersetzung. Diskussionen um Texte von Heinz-Jürgen Voß (PDS) und Stefan aus Flensburg
t#3
David Thorstads offener Brief an 'Socialist Alternative' zu Fragen der us-amerikanischen Schwulen- und Lesbenbewegung
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Die Haltung von Marx und Engels zur Gleichgeschlechtlichkeit
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Der wissenschaftliche Kommunismus als Theorie der proletarischen Bewegung für eine klassenlose Gesellschaft entstand im 19. Jahrhundert. Seine Begründer waren Karl Marx und Friedrich Engels. Seine Entstehung war der theoretische Widerschein der Durchsetzung des Kapitalismus als herrschender Produktionsweise.
Dieser Aufstieg des Kapitalismus bedeutete auch die Entstehung einer vornehmlich in den Städten konzentrierten LohnarbeiterInnenklasse, die frei war vom Besitz an Produktionsmitteln, und darum frei, ihre Arbeitskraft an nachfragende Kapitalisten zu verkaufen, die frei war, vom Land in die Stadt zu ziehen, bzw. vom Kapital in die Städte getrieben wurde. Diese kapitalistische Freiheit schloss ein, dass Menschen sich nicht mehr als Teil eines Familienverbandes sahen, und es nicht mehr im früheren Ausmaße waren, sondern als Individuen, und daher die gleichgeschlechtlich Orientierten unter ihnen ihr erotisches Interesse am eigenen Geschlecht als Charakteristikum begriffen, welches sie von der Mehrheit unterschied. Sie konnten sich mit ihresgleichen zusammenschließen. So konnte aus gleichgeschlechtlichem Verhalten, welches es seit jeher gab, eine gleichgeschlechtliche Identität werden.
Das war die Geburtsstunde schwuler und lesbischer Identität, und später auch die der Bewegungen für schwule bzw. lesbische Befreiung.
Dabei waren von Anfang an schwule Männer sichtbarer als lesbische Frauen, was z. T. mit der Trennung der männlichen öffentlichen Sphäre und der weiblichen privaten Sphäre zusammenhängt, mit der ökonomischen Abhängigkeit der "Frau" vom "Mann".
(vgl. John D'Emilio, Capitalism and Gay Identity, in: Henry Abelove, Michele Aina Barale and David M. Halperin Hg. The Lesbian and Gay Studies Reader. New York: Routledge, 1993. S.467-76.)
Dieser Aufsatz setzt sich mit der Haltung Marxens und Engels' zur Gleichgeschlechtlichkeit auseinander, um den nach dem Zerfall des selbsterklärten "sozialistischen Lagers" vernebelten Blick wieder zu schärfen für die grundlegenden Widersprüche dieser Welt, z. B. den zwischen gesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung. Es ist meine Auffassung, dass die geschichtliche Bewegung gegen Kapitalismus und jegliche Form von Ausbeutung und darauf beruhender Unterdrückung erst mit der Erkämpfung der klassenlosen Gesellschaft sein Ende finden kann, und daß Schwule und Lesben sich kräftig in diesen Prozess einzumischen haben, weil sie etwas wissen über die in den gegenwärtigen Geschlechterverhältnissen eingeschlossene Unterdrückung, und weil sie ein Interesse haben, diese umzuwälzen.
Dazu wird der Marxismus als Handwerkszeug zur Erkenntnis und revolutionären Veränderung der Welt dringend benötigt, doch Handwerkszeug muss gepflegt und weiterentwickelt werden.
"Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird."
(Marx/Engels, "Manifest der Kommunistischen Partei", 1848, MEW Bd. 4, S.481)
Diese gilt auch und gerade für den Marxismus selbst, speziell auch seine bisher wenig nützliche Haltung zur Gleichgeschlechtlichkeit. Und die begann mit Marx und Engels...
Geschlechterverhältnisse, Frauen, Männer, Kinder und Familie
Zunächst möchte ich die Grundlinien der marx-engelsschen Auffassungen zum Mann-Frau Gegensatz und zur Familie aufskizzieren, und zwar anhand ihrer eigenen Worte. Alle Hervorhebungen in den Zitaten stammen von mir.
Marx und Engels konstatieren in der Deutschen Ideologie, " daß die Menschen, die ihr eignes Leben täglich neu machen, anfangen, andre Menschen zu machen, sich fortzupflanzen das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie. Diese Familie, die im Anfange das einzige soziale Verhältnis ist, wird späterhin, wo die vermehrten Bedürfnisse neue gesellschaftliche Verhältnisse, und die vermehrte Menschenzahl neue Bedürfnisse erzeugen, zu einem untergeordneten ...Übrigens ... "Momente", die vom Anbeginn der Geschichte an und seit den ersten Menschen zugleich existiert haben und sich noch heute in der Geschichte geltend machen.
Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, daß eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine "Produktivkraft", daß die Menge der den Menschen zugänglichen Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zustand bedingt und also die "Geschichte der Menschheit" stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß."
(Marx/Engels, Die deutsche Ideologie,MEW Bd. 3, S. 29f.)
Beseitigung der bürgerlichen Familie und Befreiung der Frauen
"Nicht besser steht es mit der juristischen Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe. Die rechtliche Ungleichheit beider, die uns aus früheren Gesellschaftszuständen vererbt, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung der ökonomischen Unterdrückung der Frau. In der alten kommunistischen Haushaltung, die viele Ehepaare und ihre Kinder umfaßte, war die den Frauen übergebne Führung des Haushalts ebensogut eine öffentliche, eine gesellschaftlich notwendige Industrie wie die Beschaffung der Nahrungsmittel durch die Männer. Mit der patriarchalischen Familie und noch mehr mit der monogamen Einzelfamilie wurde dies anders. Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt. Erst die große Industrie unsrer Zeit hat ihr - und auch nur der Proletarierin - den Weg zur gesellschaftlichen Produktion wieder eröffnet. Aber so, daß, wenn sie ihre Pflichten im Privatdienst der Familie erfüllt, sie von der öffentlichen Produktion ausgeschlossen bleibt und nichts erwerben kann; und daß, wenn sie sich an der öffentlichen Industrie beteiligen und selbständig erwerben will, sie außerstand ist, Familienpflichten zu erfüllen. Und wie in der Fabrik, so geht es der Frau in allen Geschäftszweigen, bis in die Medizin und Advokatur hinein. Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muß heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen, und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat. In der industriellen Welt tritt aber der spezifische Charakter der auf dem Proletariat lastenden ökonomischen Unterdrückung erst dann in seiner vollen Schärfe hervor, nachdem alle gesetzlichen Sondervorrechte der Kapitalistenklasse beseitigt und die volle juristische Gleichberechtigung beider Klassen hergestellt worden; die demokratische Republik hebt den Gegensatz beider Klassen nicht auf, sie bietet im Gegenteil erst den Boden, worauf er ausgefochten wird. Und ebenso wird auch der eigentümliche Charakter der Herrschaft des Mannes über die Frau in der modernen Familie und die Notwendigkeit wie die Art der Herstellung einer wirklichen gesellschaftlichen Gleichstellung beider erst dann in grelles Tageslicht treten, sobald beide juristisch vollkommen gleichberechtigt sind. Es wird sich dann zeigen, daß die Befreiung der Frau zur ersten Vorbedingung hat die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie, und daß dies wieder erfordert die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft"
(Engels, Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 75/76)
"21. Frage: Welchen Einfluß wird die kommunistische Gesellschaftsordnung auf die Familie ausüben?
Antwort: Sie wird das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einem reinen Privatverhältnis machen, welches nur die beteiligten Personen angeht und worin sich die Gesellschaft nicht zu mischen hat. Sie kann dies, da sie das Privateigentum beseitigt und die Kinder gemeinschaftlich erzieht und dadurch die beiden Grundlagen der bisherigen Ehe, die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern vermittels des Privateigentums, vernichtet."
(Engels, "Grundsätze des Kommunismus", 1847, Werke Band 4, S. 377)
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"Also nachdem z. B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden."
(Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S.6)
"Was wir also heutzutage vermuten können über die Ordnung der Geschlechtsverhältnisse nach der bevorstehenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen ändern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen - Punktum."
(Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, l884, Werke Band 21, S. 83)
Zusammengefasst ergibt sich: Die natürlich-gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse verändern sich mit der Entwicklung der Klassengesellschaft. Es entsteht ein antagonistischer Gegensatz zwischen Männern und Frauen, sowie auch der Widerspruch zwischen Öffentlichem und Privatem. Dieser kann auf dem Boden der Klassengesellschaft nicht gelöst werden, und erst die proletarische, auf Abschaffung aller Klassengesellschaft gerichtete Revolution ermöglicht vollständige Frauenbefreiung durch Einbeziehung der weiblichen Bevölkerung in die gesellschaftliche Produktion, durch Vergesellschaftung der Kindererziehung und durch die Abschaffung des Privateigentums als Grundlage der Abhängigkeit der Frau vom Mann und der Kinder von den Eltern. Hier fällt aber schon auf, dass Gleichgeschlechtlichkeit in diesem grundlegenden Zusammenhang nicht erwähnt wird.
Und in Formulierungen wie: "dem Geliebten die Hingabe zu verweigern" klingt ein gerüttelt Stück männlichen Chauvinismus' mit, der sich als Unterströmung durch das gesamte Marx-Engelsche Werk zieht. Obwohl Marx und Engels weit über ihre Zeit hinausragen, sind sie doch auch deren Kinder, noch dazu männliche, heterosexuelle Kinder, die Frauen tendenziell eine eigenständige Sexualität absprechen.
Das wird auch deutlich an der Haltung zur Monogamie.
"Die volle Freiheit der Eheschließung kann also erst dann allgemein durchgeführt werden, wenn die Beseitigung der kapitalistischen Produktion und der durch sie geschaffnen Eigentumsverhältnisse alle die ökonomischen Nebenrücksichten entfernt hat, die jetzt noch einen so mächtigen Einfluß auf die Gattenwahl ausüben. Dann bleibt eben kein andres Motiv mehr als die gegenseitige Zuneigung.
Da nun die Geschlechtsliebe ihrer Natur nach ausschließlich ist - obwohl sich diese Ausschließlichkeit heutzutage nur in der Frau durchweg verwirklicht -, so ist die auf Geschlechtsliebe begründete Ehe ihrer Natur nach Einzelehe. Wir haben gesehn, wie recht Bachofen hatte, wenn er den Fortschritt von der Gruppenehe zur Einzelehe vorwiegend als das Werk der Frauen ansah; nur der Fortgang von der Paarungsehe zur Monogamie kommt auf Rechnung der Männer; und er bestand, historisch, wesentlich in einer Verschlechterung der Stellung der Frauen und einer Erleichterung der Untreue der Männer. Fallen nun noch die ökonomischen Rücksichten weg, infolge deren die Frauen sich diese gewohnheitsmäßige Untreue der Männer gefallen ließen - die Sorge um ihre eigne Existenz und noch mehr die um die Zukunft der Kinder -, so wird die damit erreichte Gleichstellung der Frau aller bisherigen Erfahrung nach in unendlich stärkerem Maß dahin wirken, daß die Männer wirklich monogam werden, als dahin, daß die Frauen polyandrisch.
Was aber von der Monogamie ganz entschieden wegfallen wird, das sind alle die Charaktere, die ihr durch ihr Entstehn aus den Eigentumsverhältnissen aufgedrückt wurden, und diese sind erstens die Vorherrschaft des Mannes und zweitens die Unlösbarkeit. Die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe ist einfache Folge seiner ökonomischen Vorherrschaft und fällt mit dieser von selbst. Die Unlösbarkeit der Ehe ist teils Folge der ökonomischen Lage, unter der die Monogamie entstand, teils Tradition aus der Zeit, wo der Zusammenhang dieser ökonomischen Lage mit der Monogamie noch nicht recht verstanden und religiös outriert wurde. Sie ist schon heute tausendfach durchbrochen. Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die Liebe fortbesteht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechtsliebe ist aber nach den Individuen sehr verschieden, namentlich bei den Männern, und ein positives Aufhören der Zuneigung oder ihre Verdrängung durch eine neue leidenschaftliche Liebe macht die Scheidung für beide Teile wie für die Gesellschaft zur Wohltat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten."
(Engels, Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 82/83)
Daß die Geschlechtsliebe ihrer Natur nach ausschließlich sein soll, dass Männer "untreuer" als Frauen seien, dass sexuelle "Treue" ein positiver Wert sei - all das ist fragwürdig.
Immerhin aber verficht Engels die Freiheit der Ehescheidung, und an anderer Stelle schreibt er über die Monogamie:
"die bei Vögeln vorkommenden Beispiele treuer Monogamie beweisen nichts für die Menschen, da diese eben nicht von Vögeln abstammen. Und wenn strenge Monogamie der Gipfel aller Tugend ist, so gebührt die Palme dem Bandwurm, der in jedem seiner 50-200 Proglottiden oder Leibesabschnitte einen vollständigen weiblichen und männlichen Geschlechtsapparat besitzt und seine ganze Lebenszeit damit zubringt, in jedem dieser Abschnitte sich mit sich selbst zu begatten."
( F. Engels, Ursprung, MEW 21, S. 40)
Ein Verfechter lebenslanger Einehe war Engels jedenfalls nicht.
Ich möchte jetzt auf einige Äußerungen zu Sexualität und Askese eingehen. Engels spricht sich entschieden gegen den Asketismus aus und kennzeichnet ihn als reaktionär:
"Wir finden schon hier, bei dem ersten Vorläufer der Bewegung, jenen Asketismus, den wir bei allen mittelalterlichen Aufständen mit religiöser Färbung und in der neueren Zeit im Anfang jeder proletarischen Bewegung antreffen. Diese asketische Sittenstrenge, diese Forderung der Lossagung von allen Lebensgenüssen und Vergnügungen stellt einerseits gegenüber den herrschenden Klassen das Prinzip der spartanischen Gleichheit auf und ist andrerseits eine notwendige Durchgangsstufe, ohne die die unterste Schicht der Gesellschaft sich nie in Bewegung setzen kann. Um ihre revolutionäre Energie zu entwickeln, um über ihre feindselige Stellung gegenüber allen andern Elementen der Gesellschaft sich selbst klarzuwerden, um sich als Klasse zu konzentrieren, muß sie damit anfangen, alles das von sich abzustreifen, was sie noch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung versöhnen könnte, muß sie den wenigen Genüssen entsagen, die ihr die unterdrückte Existenz noch momentan erträglich machen und die selbst der härteste Druck ihr nicht entreißen kann. Dieser plebejische und proletarische Asketismus unterscheidet sich sowohl seiner wild-fanatischen Form wie seinem Inhalt nach durchaus von dem bürgerlichen Asketismus, wie ihn die bürgerliche, lutherische Moral und die englischen Puritaner (im Unterschied von den Independenten und weitergehenden Sekten) predigten, und dessen ganzes Geheimnis die bürgerliche Sparsamkeit ist. Es versteht sich übrigens, daß dieser plebejisch-proletarische Asketismus in demselben Maße seinen revolutionären Charakter verliert, in welchem einerseits die Entwicklung der modernen Produktivkräfte das Material des Genießens ins Unendliche vermehrt und damit die spartanische Gleichheit überflüssig macht und andrerseits die Lebensstellung des Proletariats und damit das Proletariat selbst immer revolutionärer wird. Er verschwindet dann allmählich aus der Masse und verläuft sich bei den Sektierern, die sich auf ihn steifen, entweder direkt in die bürgerliche Knickerei oder in ein hochtrabendes Tugendrittertum, das in der Praxis ebenfalls auf eine spießbürgerliche oder zunfthandwerkermäßige Knauserwirtschaft hinauskommt. Der Masse des Proletariats braucht die Entsagung um so weniger gepredigt zu werden, als sie fast nichts mehr hat, dem sie noch entsagen könnte."
(MEW Bd. 7, S. 359/360)
Diese Zurückweisung des Asketismus bezieht sich durchaus auch auf die Haltung zur Sexualität:
"Und in der Tat, in dem Himmel unsres Johannes gibt es keine einzige Frau. Er gehört also der auch in andern urchristlichen Schriften oft auftretenden Richtung an, die den Geschlechtsverkehr überhaupt für sündhaft ansieht. Und wenn wir dann noch bedenken, daß er Rom die große Hure nennt, mit welcher gehuret haben die Könige der Erde und sind trunken worden von dem Wein ihrer Hurerei, und ihre Kaufleute sind reich geworden von ihrer großen Wollust, so können wir unmöglich das Wort in den Sendschreiben in dem engen Sinn nehmen, den die theologische Apologetik ihm beilegen möchte, um dadurch eine Bestätigung für andre neutestamentliche Stellen herauszuklauben. Im Gegenteil. Diese Stellen der Sendschreiben weisen offenbar hin auf die allen tieferregten Zeiten gemeinsame Erscheinung, daß, wie an allen andern Schranken, auch an den überlieferten Banden des Geschlechtsverkehrs gerüttelt wird. Auch in den ersten christlichen Jahrhunderten tritt, neben der Askese, die das Fleisch abtötet, oft genug die Tendenz auf, die christliche Freiheit auf mehr oder weniger schrankenlosen Umgang zwischen Mann und Weib auszudehnen. Ebenso ging's in der modernen sozialistischen Bewegung. Welch greuliches Entsetzen rief nicht in der damaligen "frommen Kinderstube" Deutschland in den dreißiger Jahren die saint-simonistische réhabilitation de la chair hervor, die man verdeutschte als "Wiedereinsetzung des Fleisches"! Und am greulichsten waren entsetzt jene damals herrschenden vornehmen Stände (Klassen gab's damals noch nicht bei uns), die in Berlin ebensowenig wie auf ihren Landgütern leben konnten, ohne stets wiederholte Wiedereinsetzung ihres Fleisches! Ja, hätten die guten Leute erst den Fourier gekannt, der dem Fleisch noch ganz andre Sprünge in Aussicht stellt! Mit der Überwindung des Utopismus haben diese Extravaganzen einer rationelleren und in Wirklichkeit weit radikaleren Auffassung Platz gemacht, und seitdem Deutschland aus der frommen Kinderstube Heines sich zum Zentralgebiet der sozialistischen Bewegung entwickelt hat, lacht man über die heuchlerische Entrüstung der vornehmen frommen Welt."
(Engels, Zur Geschichte des Urchristentums, MEW Bd. 22, S. 463)
Engels schreibt an anderer Stelle über Fleischeslust:
"Worin Weerth Meister war, worin er Heine übertraf (weil er gesunder und unverfälschter war) und in deutscher Sprache nur von Goethe übertroffen wird, das ist der Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust. Manche der Leser des "Sozialdemokrat" würden sich entsetzen, wollte ich die einzelnen Feuilletons der "Neuen Rhein. Zeitung" hier abdrucken lassen. Es fällt mir jedoch nicht ein, dies zu tun. Indes kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auch für die deutschen Sozialisten einmal der Augenblick kommen muß, wo sie dies letzte deutsche Philistervorurteil, die verlogene spießbürgerliche Moralprüderie offen abwerfen, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei dient. Wenn man z.B. Freiligraths Gedichte liest, so sollte man wirklich meinen, die Menschen hätten gar keine Geschlechtsteile. Und doch hatte niemand mehr Freude an einem stillen Zötlein, als gerade der in der Poesie so ultrazüchtige Freiligrath. Es wird nachgerade Zeit, daß wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die "Neue Rheinische Zeitung" .
(Engels, Georg Weerth, Der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, MEW Bd. 21, S. 8)
Engels ist also durchaus für sexuelles Vergnügen zu haben, welches er als natürlich, unentbehrlich und äußerst vergnüglich ansieht.
Allerdings gibt es bei Marx und Engels eine Tendenz, menschliche Sexualität prinzipiell mit Heterosexualität gleichzusetzen:
"Nun haben Gefühlsverhältnisse zwischen den Menschen, namentlich auch zwischen beiden Geschlechtern bestanden, solange es Menschen gibt. Die Geschlechtsliebe speziell hat in den letzten achthundert Jahren eine Ausbildung erhalten und eine Stellung erobert, die sie während dieser Zeit zum obligatorischen Drehzapfen aller Poesie gemacht hat. Die bestehenden positiven Religionen haben sich darauf beschränkt, der staatlichen Regelung der Geschlechtsliebe, d.h. der Ehegesetzgebung, die höhere Weihe zu geben, und können morgen sämtlich verschwinden, ohne daß an der Praxis von Liebe und Freundschaft das Geringste geändert wird."
( Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 283)
Bei Marx und Engels gibt es auch Tendenzen, den Gegensatz von Mann und Frau zu biologisieren, anstatt ihn historisch-materialistisch zu erklären und zu kritisieren.
Ich habe oben schon auf die Leugnung einer eigenständigen Sexualität der Frau hingewiesen; hier folgen einige weitere Beispiele für heftige bürgerliche Relikte in der Frage des Geschlechterverhältnisses (alle Hervorhebungen sind von mir, Verf.):
"In vielen Fällen wird die Familie durch das Arbeiten der Frau nicht ganz aufgelöst, sondern auf den Kopf gestellt. Die Frau ernährt die Familie, der Mann sitzt zu Hause, verwahrt die Kinder, kehrt die Stuben und kocht. Dieser Fall kommt sehr, sehr häufig vor; in Manchester allein ließe sich manches Hundert solcher Männer, die zu häuslichen Arbeiten verdammt sind, zusammenbringen. Man kann sich denken, welche gerechte Entrüstung diese tatsächliche Kastration bei den Arbeitern hervorruft und welche Umkehrung aller Verhältnisse der Familie, während doch die übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse dieselben bleiben, dadurch entsteht."
(Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW Bd. 2 ,S. 369)
"Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen. Das neue Geschlecht, Herr wie Diener, war ein Geschlecht von Männern, verglichen mit seinen römischen Vorgängern."
(MEW 21, S. 149)
Richtige, unkastrierte Männer! Wenn das kein männlicher Chauvinismus ist ...
"Die Prostitution degradiert unter den Frauen nur die Unglücklichen, die ihr verfallen ..."
(MEW Bd. 21, S. 76)
"Damit fällt die Sorge weg wegen der ‚Folgen', die heute das wesentlichste gesellschaftliche - moralische wie ökonomische - Moment bildet, das die rücksichtslose Hingabe eines Mädchens an den geliebten Mann verhindert."
(MEW Bd. 21, S. 77)
" ... und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen anderen Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen."
(MEW Bd. 21, S. 83)
"wonach der fremde Australneger, ...dennoch... Frauen findet, die ihm ohne Sträuben und ohne Arg zu Willen sind. .."
(Engels, Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, s.50/51)4
Frauen geben sich hin, oder sind dem Mann zu Willen. Das ist eine männlich-chauvinistische, heteronormative Herangehensweise, die den Frauen eine eigene und eigenständige Sexualität abspricht.
"andere vorderasiatische Völker schickten ihre Mädchen jahrelang in den Tempel der Anaitis, wo sie mit selbstgewählten Günstlingen der freien Liebe zu pflegen hatten..."
(ibid., MEW Bd. 21, S. 55)
Frauen suchen sich hier ihre Günstlinge selbst, und doch haben sie laut Engels "der ...Liebe zu pflegen". Das ist absurd ! Wiederum wird eine eigenständige Sexualität der Frauen negiert.
Auch folgende Äußerung Marxens ist ambivalent:
"Jeder, der etwas von der Geschichte weiß, weiß auch, dass große gesellschaftliche Umwälzungen ohne das weibliche Ferment unmöglich sind. Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Hässlichen eingeschlossen)."
(Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 12.12.1868, MEW Bd. 32, S. 582/583)
Der erste Teil obiger Äußerung ist völlig richtig, der zweite Teil, das "schöne Geschlecht" und "die Hässlichen miteingeschlossen" ist zweifellos eine männlich-chauvinistische, heterosexistische Bemerkung, wenngleich in witziger Form dargebracht
Hier sehe ich deutliche Überreste heterosexistischer und männlich-chauvinistischer Auffassungen bei Marx und Engels. Das ist auch die Erklärung dafür, warum es von beiden keine einzige Äußerung zu gleichgeschlechtlichem Verlangen von Frauen gibt. Wenn Frauen keine eigenständige Sexualität haben, dann sicherlich auch nicht in Bezug aufeinander.
Gleichgeschlechtlich orientierte Männer
Zum Thema männlichen gleichgeschlechtlichen Verlangens allerdings haben Marx und Engels eine Reihe von Äußerungen gemacht, und diesen möchte ich mich jetzt zuwenden. Obwohl es sicherlich richtig ist, dass zwischen zu Lebzeiten veröffentlichten Äußerungen und brieflichen Bemerkungen unterschieden werden muß, wird sich zeigen, dass inhaltlich zwischen beiden Übereinstimmung besteht. Im Übrigen muß man an revolutionäre Führer des ArbeiterInnenklasse wohl auch andere Maßstäbe anlegen als an bürgerliche Kräfte, die "privat" oft und gerne anderes sagen als "öffentlich".
Es fällt auf, dass es sich bei Marx' und Engels' Äußerungen über männliche Homosexualität nicht um fundierte Einschätzungen im Rahmen einer Gesamtanalyse menschlicher Sexualität handelt, sondern um Einzelbemerkungen, die oft im Zusammenhang mit dem politischen, ideologischen und organisatorischen Kampf gegen opportunistische Strömungen fallen, speziell gegen die Lassalleaner.
Diese von Ferdinand Lassalle (1825 - 1864)begründete opportunistische Strömung in der deutschen Arbeiterbewegung propagierte statt des unversöhnlichen Klassenkampfes der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie, statt der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats als einzigen Weg zum Kommunismus die Klassenzusammenarbeit, den friedlichen Weg zum Sozialismus und den allgemeinen Volksstaat. Marx und Engels bekämpften diese Strömung von Anfang an.
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Die erste Äußerung der beiden zum Thema habe ich in "Die Männer des Exils" gefunden. Hier heißt es über Willich, der Mitglied des Bundes der Kommunisten war und an der Revolution von 1848/49 als Freikorpsführer im badisch-pfälzischen Aufstand mit seinem Adjutanten Friedrich Engels teilnahm:
" ... weibliche Reize müssen ihn kalt lassen, während es einen Effekt macht, wenn er, wie Cromwell seine Unteroffiziere, von Zeit zu Zeit einen Schneidergesellen in sein Bett nimmt"
(MEW Bd. 8, S. 321)
Dies ist eine rein deskriptive, nicht-wertende Bemerkung. So weit, so gut.
Die nächste Äußerung, die ich finden konnte, stammt von Marx und steht in den "Grundrissen". Karl Marx macht sich zu Recht über bürgerliche Ökonomen und deren absurde Vorstellungen von produktiver Arbeit lustig. Er benutzt hier unter anderem zur Veranschaulichung als Beispiel die nicht-produktive Tätigkeit eines Strichjungen:
"Oder die modernen Ökonomen haben sich zu solchen Sykophanten des Bourgeois gemacht, dass sie demselben weismachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf -blockhead- den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde."
(Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/M., S.184)
Diese Bemerkung ist witzig und treffend, und niemand, außer eben bürgerlichen Ökonomen, wollte sie wohl kritisieren.
Nicht ganz so harmlos ist die nächste Bemerkung Marxens aus seinem Brief an Friedrich Engels vom 26.9.1868. Jean-Baptiste Schweitzer, ein schwuler Lassalleaner ((1833-1875), hatte ein taktisch motiviertes Schreiben an Marx gerichtet, in dem er Marx lobend als Führer der europäischen Arbeiterbewegung bezeichnete, um ihn von einer Parteinahme für Wilhelm Liebknecht (1826-1900,einer der Führer der mehr oder weniger marxistischen Eisenacher) und damit gegen die Lasalleaner abzuhalten. Selbstverständlich fiel Marx nicht auf dieses Manöver herein und schrieb an Engels:
"Was aber das ‚warmbrüderliche' Schreiben des S(chweitzer) an mich angeht, ..."
(Marx an Engels, Brief vom 26.9.1868, MEW Bd. 32, S. 167)
Diese Bemerkung ist sprachlich witzig, inhaltlich aber infam, weil sie den antischwulen Ausdruck "warmer Bruder" benutzt. Der Ausdruck selbst war und ist damals wie heute abschätzig, abwertend und diskriminierend gegenüber schwulen Männern, und genau in diesem Sinne verwendet Marx seine Formulierung. So etwas ist prinzipiell unzulässig im politischen Kampf, und als "Entschuldigung" könnte man höchstens anführen, dass es sich hier um die Korrespondenz zwischen Marx und Engels handelt, die ja nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Bei Witzen über unterdrückte Minderheiten sollten sich fortschrittliche Menschen stets von deren eigener Herangehensweise leiten lassen. Wenn offen lebende Schwule und Lesben Witze über sich selbst machen, dann sind diese meist unterhaltsam, und es resultiert ein gemeinsames Lachen... Doch wenn Heterosexisten Witze über Schwule und Lesben machen, dann haben diese in aller Regel eine andere, nämlich eine unterdrückerische und diskriminierende, wenn nicht sogar eliminatorische Stoßrichtung. Die nächste Äußerung Engels' kann man nur verstehen, wenn man weiß, wer Karl Heinrich Ulrichs war.
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Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895)
Er war der erste Schwule in Deutschland, der öffentlich als solcher auftrat. Sein Motto war:
"Als Urninge (Ulrichs Wort für Schwule) sollen und müssen wir auftreten. Nur dann erobern wir uns in der menschlichen Gesellschaft Boden unter den Füßen, sonst niemals." (1865). Zu Recht forderte er als Mitglied der Juristenvereinigung auf dem Deutschen Juristentag in München am 29.8.1867: "Der Juristentag wolle es für eine dringende Forderung der gesetzgeberischen Gerechtigkeit erklären, ... dass angeborene Liebe zu Personen des männlichen Geschlechtes (von Mann zu Mann) nur unter den selben Voraussetzungen zu strafen sei, unter welchen Liebe zu Personen weiblichen Geschlechtes (von Mann zu Frau) gestraft wird, dass sie also straflos bleibe, solange weder Rechte verletzt werden (durch Anwendung oder Androhung von Zwang, durch Missbrauch unmannbarer Personen, bewusstloser etcetera), noch öffentliches Ärgernis erregt wird."
Er wurde gezwungen, seine Rede abzubrechen. Später schätzte er sein Auftreten auf dem Juristentag wie folgt ein: "Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, dass ich ... zu München in mir den Mut fand, Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen , wutblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, dass ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu setzen."
Er solidarisierte sich mit anderen Unterdrückten: "Darum ist unsere Stellung überall auf Seite der Vergewaltigten oder Geschmähten, mögen sie heißen Pole, Hannoveraner, Jude, Katholik, oder sei es ein unschuldiges Geschöpf, das den Leuten ‚anrüchig' ist ... wir, die wir wissen, wie es thut, vergewaltigt und gemartert zu werden: wir können so recht von Herzen die Partei jener ergreifen, die wir in ähnlicher Lage erblicken."
Wegen seiner politischen Ansichten und seines öffentlichen Protestes gegen die Einverleibung Hannovers durch Preußen 1866 wurde Ulrichs zweimal verhaftet und mußte 1867 für drei Monate in der Festung Minden einsitzen. Eine politische Motivation kann auch unterstellt werden, als er in seiner Schrift Vindicta den zuvor bereits erwähnten Lassalleaner Johann Baptist Schweitzer verteidigte, als dieser wegen schwuler sexueller Handlungen vor Gericht gestellt wurde.
Ulrichs verschickte seine Schriften an die verschiedensten einflussreichen Persönlichkeiten. Karl Marx bekam seine Schrift Mennon oder Incubus (vgl. (Hubert Kennedy, Karl Heinz Ulrichs, Leben und Werk, Hamburg 2001, s. 215 - 217) in die Hände und leitete sie an Friedrich Engels weiter.
(zitiert nach: Manfred Baumgardt, Geschichte der Schwulenbewegung in Berlin 1850 - 1933, in: Dokumentation der Vortragsreihe "Homosexualität und Wissenschaft", Berlin 1985, S. 159/160 und nach: Hubert Kennedy, J. B. von Schweitzer: The Queer Marx loved to hate, Journal of Homosexuality, New York 1995)
Weder Marx noch Engels hielten es für nötig, sich bei Ulrichs für die Zusendung seiner Schrift zu bedanken und ihm eine Kritik daran zukommen zu lassen.
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Engels las das Buch von Ulrichs und schrieb am 22.6.1869 an Marx:
"Das ist ja ein ganz kurioser ‚Urning', den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staate bilden. Nur die Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im geheimen zu bestehen. Und da sie ja in allen alten uns selbst neuen Parteien, von Rösing bis Schweitzer, so bedeutende Männer zählen, kann ihnen der Sieg nicht ausbleiben. ‚Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul'(Krieg den Mösen, Friede den Arschlöchern,Verf.), wird es jetzt heißen. Es ist nur ein Glück, dass wir persönlich zu alt sind, als dass wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müssten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge Generation! Übrigens auch nur in Deutschland möglich, dass so ein Bursche auftritt, die Schweinerei in eine Theorie umsetzt und einladet: introite usw. Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als das zu bekennen, und muß noch immer coram publico ‚von vorne', wenn auch nicht ‚von vorne hinein', wie er aus Versehen einmal sagt, operieren. Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits de cul (Rechte des Arsches,Verf.) anerkannt hat, da wird es ganz anders kommen. Uns armen Leuten von vorn, mit unserer kindischen Neigung für die Weiber, wird es dann schlecht genug gehen. Wenn der Schweitzer zu etwas zu brauchen wäre, so wäre es, diesem sonderbaren Biedermann die Personalien über die hohen und höchsten Päderasten abzulocken, was ihm als Geistesverwandten gewiß nicht schwer wäre..."
(MEW Bd. 32, S. 324/5, Engels an Marx, 22.6.1869)
Marx und Engels bedienten sich für ihren alltäglichen Gedankenaustausch der Briefform, so wie man heute in den imperialistischen Ländern das Telefon oder e-mail benützen würde. Diese Briefe waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nichtsdestotrotz zeigt dieser Brief deutlich, was in Engels vorging, wenn er mit männlicher Homosexualität konfrontiert wurde.
Zunächst einmal verwendet Engels den Ausdruck Päderasten. Dieser Ausdruck wurde im 19. Jahrhundert hauptsächlich im Sinne von schwuler Mann, männlicher Gleichgeschlechtlicher benutzt, und nicht im Sinne von Jünglingsliebhaber.(Vgl.: Taeger / Lautmann: Sittlichkeit und Politik, Der § 175 im deutschen Kaiserreich, in: Männerliebe im alten Deutschland, Berlin 1992, S. 142). Engels benutzt diesen Ausdruck selbstverständlich im damaligen und nicht im heutigen Sinne.
Der nächste Punkt, der einem beim Lesen aufstößt, ist der Begriff ‚widernatürlich.' Bei männlicher und weiblicher Homosexualität, die in der einen oder anderen Form in der gesamten belegten Geschichte der Menschheit vorkommt, und außerdem auch im Tierreich, von ‚widernatürlich' zu sprechen, zeugt von heterosexistischen Scheuklappen.
In anderem Zusammenhang hatte Marx den Begriff "widernatürlich" schon 1837 verworfen:
"Es ist vor allem abgeschmackt, zu behaupten, daß eine Handlung, die sich so oft vollzieht, eine widernatürliche Handlung sei; der Selbstmord ist in keiner Weise widernatürlich, weil wir täglich seine Zeugen sind. Was gegen die Natur ist; ereignet sich nicht. Es liegt im Gegenteil in der Natur unsrer Gesellschaft, viele Selbstmorde zu gebären, ..."
(Marx, Über den Selbstmord, Köln 2004, S. 57)
Engels war ein höchst belesener Mann, und wußte sicherlich, daß die Bezeichnung ‚widernatürlich' für gleichgeschlechtlichen Sex direkt vom Hl. Thomas von Aquin und noch weiter zurück aus den Römerbriefen stammt, in deren ideologischer Nähe sich KommunistInnen normalerweise weder wohlfühlen können noch sollten. Doch Heterosexismus macht blind.
"Aber bereits seit urkirchlichen Zeiten, seit dem sogenannten Römererbrief des Paulus, wurde eine sexualtheologische Demarkationslinie zwischen Erlaubtem und Verbotenen, zwischen Gut und Böse, zwischen Tugend und Schande gezogen. Diese Zweiteilung bediente sich des griechischen Begriffs für ´Natur`, Physis: Das auf Fortpflanzung ausgerichtete Sexualverhalten wurde als ´naturgemäß` (´naturaliter`), das angeblich der Fortpflanzung hinderliche oder zuwiderlaufende als ´widernatürlich` (´contra naturam`) bezeichnet. Unter dem Oberbegriff ´widernatürlich` wurden im Mittelalter also nicht nur alle Formen des zwischenmännlichen Sexualhandelns, sondern auch Oral- und Analverkehr zwischen Eheleuten oder Sexualkontakte zwischen Mensch und Tier gefaßt. Demnach fielen sowohl Männer als auch Frauen, also alle Menschen schlechthin, prinzipiell unter das Verdikt potentieller Widernatur. Strafrechtlich formuliert heißt dies: Männer und Frauen wurden nicht bestraft, weil sie mit ihresgleichen verkehrt, sondern weil sie wider die Natur gehandelt hätten. Die Grenzziehung zwischen ´Homo`- und ´Heterosexualität` war unbekannt."
(Bernd-Ulrich Hergemöller, Von der ´stummen Sünde`, K.H.Ulrichs zum 175.Geburtstag, Berlin 2000, S.17/18)
Die heterosexistische Erblindung zeigt sich dann auch beim nächsten Punkt: Engels nimmt eine bereits bestehende Organisation schwuler Männer an. Eine Organisation gab es aber zu diesem Zeitpunkt keineswegs. Ulrichs war ein Einzelkämpfer, und das war Engels auch bekannt. Friedrich Engels bedient sich hier also der auch damals schon beliebten heteroparanoiden Vorstellung einer schwulen Cliquenbildung, einer schwulen Verschwörung.
"Unmoral und Verschwörung galten das ganze 19. Jahrhundert hindurch als eng miteinander verknüpft. Wie wir gesehen haben, hatten während der Französischen Revolution Deutsche darüber geklagt, daß die Franzosen sie ihrer Moral beraubten, während einige Engländer, mit ein wenig mehr Phantasie, behaupteten, Frankreich habe Tänzer über den Kanal geschickt, um ihre Nation mit wollüstigen Gesten zu verderben. Proust nannte die Homosexuellen eine Freimaurerloge, die nur mächtiger, weiter verbreitet und weniger suspekt als die orthodoxe sei. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg beschrieb Maximilian Harden eine angebliche homosexuelle Verschwörung am kaiserlichen Hof mit Worten, die jedem rassistischem Traktat über die Juden hätten entnommen sein können: 'Überall finden sich Männer dieses Stammes, an Gerichtshöfen, in hohen Positionen des Heeres und der Marine, in Ateliers, in den Redaktionen großer Zeitungen , . . unter Kaufleuten, Lehrern und sogar Richtern. Alle vereint gegen ihren gemeinsamen Feind.' Die Verschwörung der Homosexuellen zur Unterwanderung der Gesellschaft lief parallel zur allgemeinen Weltverschwörung der Juden; sowohl Juden wie Homosexuelle wurden von ihren Gegnern als 'Staat im Staat' angesehen. Konspirationstheorien waren in nicht größerem Maße die Erfindung des Rassismus als entsprechende Stereotype. Er nutzte sie einfach bloß als weiteren Faktor, um die minderwertigen Rassen und die 'rassisch Entarteten' im Klischee zu bannen."
(George L. Mosse, Nationalismus und Sexualität, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 176)
Leider macht Engels solchen Verschwörungstheorien in Bezug auf Schwule Konzessionen.
Engels' vorgespielte Verfolgungsangst nimmt im Folgenden noch größere Ausmaße an. Während Ulrichs, wie wir gesehen haben, zu Recht ein Ende der strafrechtlichen Verfolgung einvernehmlicher männlicher Homosexualität fordert, wähnt Engels sich bereits persönlich anal herausgefordert. Nur sein Alter könne ihn jetzt noch schützen. Engels unterstellt also, dass schwule Männer Vergewaltiger seien und obendrein vom Jugendwahn besessen. Sind das vielleicht Projektionen? Ist das vielleicht keine zynische Umkehrung des Unterdrückungsverhältnisses? Werden hier Heteros von Schwulen grausam verfolgt? Auf keinen Fall können solche Auffassungen als wissenschaftlich fundierte Stellungnahme gelten, sondern eher als projektiver Unsinn.
Doch leider kommt es noch toller. Engels bezeichnet Ulrichs als feige ("Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als das zu bekennen"), weil er sich nicht öffentlich bekennt. Ich habe weiter oben einige wichtige Punkte aus dem Kampf Ulrichs dargestellt, anhand derer sich jedermann/jedefrau selbst ein Bild von Ulrichs machen kann. Engels führt hier die unselige Tradition fort, Schwule als feige zu bezeichnen. Das ist eine Verleumdung, die allein schon durch den mutigen Kampf von Ulrichs widerlegt wurde.
Nach seinem tapferen Auftritt beim deutschen Juristentag von 1867 (s.o.) schreibt Ulrichs 1868 in Memnon, sein Pseudonym lüftend:: "Ich, Numa Numantius, Verfasser der Schriften "Vindex", "Inclusa", "Vindicta", "Formatrix" und "Ara Spei", habe 1863 erklärt: " die Fessel der Pseudonymität, der ich bei Herausgabe jener Hefte mich unterwarf, würde ich ehestens zerreißen. Heute öffne ich das Visier.
Karl Heinrich Ulrichs"(Memnon, S. VIII, Karl Heinrich Ulrichs, Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, Bd. 2, Berlin 1994)
Soviel zum Thema der angeblichen Ulrichschen Feigheit.
Auch Engels' Haltung zur drohenden Übernahme des preußischen Strafrechts ist fragwürdig. ("Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits de cul (Rechte des Arsches, Verf.)anerkannt hat, da wird es ganz anders kommen. Uns armen Leuten von vorn, mit unserer kindischen Neigung für die Weiber, wird es dann schlecht genug gehen.")
In Wirklichkeit war und ist es doch wohl so: Die französische Revolution setzte zum ersten Mal konsequent die Trennung von Kirche und Staat durch. Damit ergab sich als strafrechtliche Konsequenz, dass im Code Napoleon die Verurteilung ‚widernatürlicher Handlungen' ersatzlos gestrichen wurde. Das war zwar eine bürgerliche Errungenschaft, aber sicherlich eine, an der KommunistInnen festhalten müssen.
Das bürgerliche Recht, der Code Napoleon, der mit den napoleonischen Truppen gegen Kirche und Adel in den deutschen Kleinstaaten verbreitet wurde und den Klassenkampf des Bürgertums gegen den Adel unterstützte, ging vom Selbstbestimmungsrecht eines Menschen ab dem 13. Lebensjahr über sich selbst aus, und infolgedessen gab es keine Bestrafung gleichgeschlechtlicher Handlungen über dem 13. Lebensjahr, was z. B. im Bayerischen Gesetzbuch verankert war und erst bei der Staatsgründung des Deutschen Reiches 1871 durch die Übernahme des Preußischen Rechts zu Fall gebracht wurde. Das war ein historischer Fortschritt. Allerdings war der Code Napoleon und die bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, welche er juristisch zum Ausdruck brachte, ein halbherziger, inkonsequenter, eben ein bürgerlicher Fortschritt:
"Es waren Aufklärer wie Montesquieu, Voltaire und Beccaria, die sich der Kriminalisierung der Sodomie widersetzten. Und es war die Französische Revolution, die jenem Zeitalter ein Ende bereitete, das Sodomie in weiten Teilen Europas als Kapitalverbrechen bestrafte. Mit der Trennung von Kirche und Staat ging eine Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre einher. Der Staat hatte dabei die Verantwortlichkeit für den öffentlichen Bereich, während der Bürger im Privaten eigenverantwortlich und frei von staatlichem Zwang sein sollte. Für die Aufklärer war Sexualität eine Privatsache, die grundsätzlich nur strafwürdig sein sollte, wenn sie öffentlich oder gewalttätig war. Der Bürger wurde damals freilich als ein heterosexueller Mann gedacht: Frauen und Kinder hatten wenig Rechte gegenüber ihren Herren, und Schwule blieben für die Suche nach sexuellem Vergnügen angewiesen auf jene Räume, in denen ihr Verhalten >Erregung öffentlichen Ärgernisses< darstellen mußte. Gerade im Zuge der Aufklärung wurde die Sexualität der Kinder mit der Kampagne gegen die Onanie verdammt, die eine sexuelle Mündigkeit der Kinder im Namen ihrer Unschuld verneinte.
Die Aufklärung war für Frauen, Kinder und Schwule unvollkommen; die Phrase von der Gleichheit aller Menschen war auf Männer beschränkt. Wenn die Französische Revolution neben Freiheit und Gleichheit auch Brüderlichkeit versprach, wurden zwar in der Tat alle Menschen Brüder, aber eben keine Schwestern. Und wenn die Schwulen auch vielleicht in vielen Ländern Europas nach der Entkriminalisierung der Sodomie aufatmen konnten, war doch damit zugleich klar, daß diese Entwicklung wenig an der negativen Wertung der mannmännlichen Sexualität änderte. In Bayern befürwortete Johann Anselm von Feuerbach, der die dortige Reform des Strafrechts vorbereitete, die Entkriminalisierung der Sodomie, gleichzeitig aber ebenso die polizeiliche Kontrolle derselben, weil sie der demographischen Entwicklung schade und zur Entnervung des Individuums führe. Er griff dabei auf Argumente zurück, die allgemein gegen nicht-reproduktives Sexverhalten und gegen Onanie angeführt wurden. Die Aufklärung eröffnete neue Möglichkeiten und war gleichzeitig halbherzig: sie schloß die Sexualität von Frauen, Kindern und Schwulen ebenso aus wie alle Formen, die nicht koital waren.
Es darf deswegen nicht erstaunen, daß es gerade Philosophen der Gegenaufklärung oder der Romantik waren, die die Männerliebe verteidigten, denn die Aufklärung neigte zur Rationalität und nicht zu Hamanns Sinnlichkeit, sie verfolgte eine eher männliche als weibliche Perspektive und eine Ökonomie der Knappheit statt des Überflusses. Ein biologisches Naturbild ersetzte ein göttliches, aber die sexuellen Konturen blieben ungefähr dieselben, ganz und gar heterosexuellen. Sexuelle Aufklärung war für Pädagogen eine abstrakte Einleitung in die Naturgesetze der Liebe, nicht eine praktische Einführung ins Sexualleben. Die Sexualität sollte erst mit dem Eintritt der Pubertät natürlicherweise aus der kindlichen Unschuld erwachsen. Frauen wurde ein lustvolles Wesen aberkannt; Zweck der Sexualität blieb die Fortpflanzung, nicht Freude, Lust oder Genuß. Gleichwohl aber ging mit der Anerkennung des Sexuallebens als Privatsache eine gewisse Progressivität der Aufklärung einher, in dem Sinne nämlich, daß männliche Bürger sich befreien konnten von der Kontrolle durch Staat, Kirche und Familie.
Die Inkonsequenz der Aufklärer war es, die Entkriminalisierung der Sodomie eingeleitet zu haben, zugleich aber eine negative Grundhaltung zu bewahren, eine Ablehnung von Bestrafung, gepaart mit einem Präventionsdenken, das ganz und gar dem aufklärerischen Bezugsrahmen entsprang: Sie wollten lieber vorbeugen als bestrafen. In diesem Sinne sei es ratsam, den Menschen zu ermöglichen, früh zu heiraten, damit sie nicht in die Versuchung zu andersartigen sexuellen Praktiken gerieten. Feuerbach selbst erdachte sich dazu sogar eine ganze Reihe polizeilicher Maßnahmen, die in Bayern jedoch nie konkretisiert wurden."
(Gert Hekma, Der Marquis de Sade als Vorläufer der schwulen Bewegung, K.H.Ulrichs zum 175.Geburtstag, Berlin 2000, S. 45ff.)
Es war auch damals schon eine Aufgabe kommunistischer Kräfte, an der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlichen Begehrens durch die französische Revolution festzuhalten, welche im Code Napoleon ihren juristischen Ausdruck fand, so halbherzig und inkonsequent auch immer sie war, und sie gegen neuerliche reaktionäre Bestrebungen zu verteidigen.
Engels hingegen drückt in seinem Brief Indifferenz gegenüber der drohenden Übernahme des preußischen Strafrechts für den Norddeutschen Bund aus, wenn nicht sogar Sympathie für diese. Im Gegenteil war es die Aufgabe proletarischer RevolutionärInnen, dem reaktionären Preußentum in jeder Frage entgegenzutreten, statt sich ihm gedanklich zu nähern, wie Engels es hier tut.
Von Marx und Engels unbekämpft , kam der antischwule Schandparagraph zunächst ins Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes, und ab 1871 dann ins Reichsstrafgesetzbuch. Hier ist er im Wortlaut:
"'Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrecht erkannt werden.'
So lautet § 175 des bereits im Jahre der Reichsgründung erlassenen Strafgesetzbuchs. Diese Formulierung stimmt wörtlich mit der des § 173 im Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund von 1869 überein. Sie geht inhaltlich auf § 143 des 1851 verabschiedeten Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten zurück.
Im Zuge der Vorarbeiten für ein Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund wird die 'Königlich Wissenschaftliche Deputation für das Medizinal-Wesen' 1868 um ein Urteil über die Strafwürdigkeit der 'widernatürlichen Unzucht' gebeten. Sie spricht sich gegen eine Bestrafung aus, da andere Arten der Unzucht vom Gesetzgeber ebenfalls unberücksichtigt blieben und darüber hinaus keine gesundheitsgefährdenden Folgen von der Unzucht zwischen Männern oder von Menschen mit Tieren zu befürchten seien. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten von Mühler leitet das Gutachten 1869 weiter, mit der Bemerkung, es erscheine ihm 'im Interesse der öffentlichen Moral unstatthaft [...], Sodomiterei und Päderastie [...] mit keiner Strafe zu bedrohen.' 'Ich halte die in den Motiven zu § 143 des Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851 gegebene Rechtfertigung der Strafbestimmung [Entartung und Herabwürdigung des Menschen; gefährlich für die Sittlichkeit] auch gegenüber dem Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für wohlbegründet.' 1870 geht der Strafgesetzentwurf zur Beschlußfassung an den Reichstag. In den Motiven zu § 173, der uneingeschränkt an den entsprechenden Bestimmungen des preußischen Strafgesetzes festhält, heißt es, dem 'Rechtsbewußtsein im Volke', das 'diese Handlungen nicht blos als Laster, sondern als Verbrechen' beurteile, müsse Rechnung getragen werden. Die im Entwurf vorgesehene Fassung des § 173 passiert die Beratungskommission des Reichstags unverändert, obwohl 1870 fünf Petitionen eingehen, die die Streichung bzw. Abänderung der Strafbestimmung verlangen, und trotz des Antrags eines der für den XIII. Abschnitt des Entwurfs zuständigen Referenten, von der Bestrafung 'widernatürlicher Unzucht' abzusehen. Nach der Verabschiedung durch das Plenum des Reichstags erhält der Paragraph in seiner Entwurfsfassung ab Mal 1870 für den Norddeutschen Bund Verbindlichkeit. Er geht ohne Modifikationen als § 175 in das Reichsstrafgesetzbuch ein."
(Angela Taeger, Rüdiger Lautmann: Sittlichkeit und Politik, § 175 im deutschen Kaiserreich,
in: Männerliebe im alten Deutschland, Berlin 1992, S. 242)
An Engels' brieflich geäußerten Gedanken kann man/frau erkennen, wohin Heterosexismus in letzter Konsequenz führt: zur direkten Verbrüderung mit der Bourgeoisie und allen Reaktionären.
An dieser Stelle muß festgehalten werden: der Schandparagraph 175 war ein Erbe des reaktionären Preußentums, welches Marx und Engels selbst Zeit ihres Lebens bekämpften, allerdings nicht in dieser Frage. (Zu Marx' und Engels' Kampf gegen das reaktionäre Preußentum vgl.: Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum, Offenbach 1997).
Zu Schluss seiner Ausfälle fordert Engels noch das ‚Outing' weiterer politischer Gegner als Schwule. Auf Grund der von Engels diesem Briefe dargelegten Positionen nimmt das nicht weiter wunder, darf aber nicht als Anleitung kommunistischer Politik dienen, die sich nicht des Heteronormdiktats bedienen kann, ohne sich selbst aufzugeben.
Das ist übrigens nicht das erste Mal, dass solche Überlegungen im Briefwechsel von Marx und Engels eine Rolle spielen. Schon 1865, am 10.3.1865, schreibt Marx an Engels:
"Die Frechheit des Herrn Schweitzer(ein schwuler Anhänger Ferdinand Lasalles,Verf.), der doch weiß, dass ich nur seine eigenen Briefe zu publizieren brauchte, ist fabelhaft. Aber was soll der beschissene Hund auch machen. ...
Du musst ein paar Witze über den Kerl dem Siebel (Carl Siebel, 1836 - 1868, Freund von Marx, Dichter und Publizist, Verf.) zukommen lassen, der sie seinerseits in die verschiedenen Blätter kolportieren muß."
(MEW Bd. 31, S. 95)
Marx fordert hier zur Verbreitung antischwuler Witze über Schweitzer auf. Hier fällt Marx dem Heteronormdiktat selbst zum Opfer, welches er nicht bewusst wahrnimmt, und das " ist schon von vornherein etwas, das hinter seinem Rücken, durch die Macht von ihm unabhängiger Verhältnisse vorgeht"(MEW Bd. 25, S. 880) Wo der Besen nicht hinkommt, bleibt der Staub eben liegen.
Zu Engels Brief vom 22.6.1869 bleibt noch zu sagen, dass Engels hier schwule Männer noch als mann-weiblich bezeichnet. Das ist folgerichtig, wenn man Heterosexualität als Wesen des Mannes ansieht, einmal ganz abgesehen vom Gehalt solcher bipolarer Zuordnungen.
"Das ist also Wilhelms (gemeint ist Wilhelm Liebknecht , Verf.) ganzer Erfolg, daß die mannweibliche (gemeint ist Schweitzer, Verf.) und ganzweibliche Linie (gemeint ist die Gräfin Hatzfeldt, die Lebenspartnerin Lasalles,Verf.) der Lassalleaner sich vereinigt haben."
(Engels an Marx am 22.6.1869, MEW 32, S. 324)
Soweit Engels' Brief vom 22.6.1869.
Die nächsten Äußerungen stammen beide aus Engels' Werk: " Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" und können im Lichte des bereits Gesagten nicht weiter überraschen.
Engels schreibt in diesem, in sehr Vielem nach wie vor gültigen Werk über "widernatürliche Laster", i.e. Homosexualität, der alten Germanen:
"Dieser Fortschritt entsprang aber entschieden aus dem Umstand, daß die Deutschen noch in der Paarungsfamilie lebten, und die ihr entsprechende Stellung der Frau, soweit es anging, der Monogamie aufpfropften, keineswegs aber aus der sagenhaften, wunderbar sittenreinen Naturanlage der Deutschen, die sich darauf beschränkt, daß die Paarungsehe sich in der Tat nicht in den grellen sittlichen Gegensätzen bewegt wie die Monogamie. Im Gegenteil waren die Deutschen auf ihren Wanderzügen, besonders nach Südost zu den Steppennomaden am Schwarzen Meer, sittlich stark verkommen und hatten bei diesen außer ihren Reiterkünsten auch arge widernatürliche Laster angenommen, was Ammianus von den Taifalern und Prokop von den Herulern ausdrücklich bezeugt."(MEW Bd. 21, S. 71)
("That Engels meant pederasty by 'widernatürliche Lüste' is shown by his references. Ammianus Marcellinus, writing ca. A.D. 380, and, more ambigiously, Procopius, writing ca. 550, expressed disgust that Germanic tribes, Taifaler und Heruler, practised pederasty.' William A. Percy, "Indo-European Pederasty, ", in: Encyclopedia of Homosexuality, Ed. Wayne R. Dynes, New York, Garland 1990, S. 595-597, hier S. 596, in Journal of Homosexuality, Vol. 29, Nos. 2/3, New York 1995, S. 91f., vgl. auch: Gisela Bleibtreu-Ehrenberg, Homosexualität, Frankfurt/M. 1981, S. 41ff)
Zum Begriff ‚widernatürlich' werde ich hier keine weiteren Ausführungen machen. Das zum Verständnis Nötige ist bereits weiter oben gesagt. Positiv an dieser Äußerung Engels' ist allerdings der beißende, auch heute noch aktuelle Spott über die reaktionäre Auffassung von der "sagenhaften, wunderbar sittenreinen Naturanlage der Deutschen" .
Die Rolle der Gleichgeschlechtlichkeit im ‚klassischen' Griechenland gefällt Engels selbstverständlich auch nicht:
"Diese athenische Familie wurde im Lauf der Zeit das Vorbild, wonach nicht nur die übrigen Ionier, sondern auch mehr und mehr die sämtlichen Griechen des Inlands und der Kolonien ihre häuslichen Verhältnisse modelten. Aber trotz aller Abschließung und Bewachung fanden die Griechinnen oft genug Gelegenheit, ihre Männer zu täuschen. Diese, die sich geschämt hätten, irgendwelche Liebe für ihre Frauen zu verraten, amüsierten sich in allerlei Liebeshändeln mit Hetären; aber die Entwürdigung der Frauen rächte sich an den Männern und entwürdigte auch sie, bis sie versanken in die Widerwärtigkeit der Knabenliebe und ihre Götter entwürdigten wie sich selbst durch den Mythus von Ganymed."
(MEW,Bd.21,S.67)
Auch die 'Knabenliebe' gilt Engels als 'widerwärtig'. Ohne hier auf die Einzelheiten des seiner/ihrerzeit genau geregelten Verhältnisses freier älterer Männer zu freien jüngeren Männern im alten Griechenland einzugehen, sollte sich man/frau sollte sich an diesem Punkt ins Gedächtnis rufen, dass die damalige griechische Gesellschaft eine Sklavenhaltergesellschaft war.
Karl Marx schreibt in den ‚Grundrissen' über ökonomische Gesellschaftsformationen im Allgemeinen:
"In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und (welche) sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besonderer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt."
(Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/M. ohne Jahresangabe, S. 27)
Eine bestimmte ökonomische Gesellschaftsformation, hier speziell die griechische Sklavenhaltergesellschaft, taucht hiernach alle übrigen Verhältnisse in diese sklavenhalterliche Beleuchtung, also auch die sexuellen Verhältnisse. Wenn in dieser Beziehung etwas widerwärtig ist, dann all' diese Verhältnisse - selbstverständlich unter gebührender Berücksichtigung der Heterosexualität. Es ist zwar nicht überraschend, aber inhaltlich falsch von Engels, nur die Beziehungen von jüngeren zu älteren Männern als widerwärtig zu bezeichnen. Wenn schon, denn schon. Dann müssen alle heterosexuellen Beziehungen in dieser Gesellschaft ebenso gegeißelt werden, weil sie ebenso wie die gleichgeschlechtlichen Beziehungen auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhen. Im Übrigen könnte man debattieren, ob bei der Darstellung dieser sexuellen und sozialen Verhältnisse der Ausdruck ‚Widerwärtigkeit' weiterhilft.
In obiger Äußerung lässt Engels auch anklingen, dass er gleichgeschlechtliches Begehren für ein Produkt heterosexueller Übersättigung hält und nicht etwa für eine der möglichen Ausdrucksformen menschlichen Begehrens. Da sowohl andersgeschlechtliches als auch gleichgeschlechtliches Verlangen seit jeher unter Menschen beider Geschlechter existiert haben, ist diese Auffassung nicht stichhaltig.
Genauere Darlegungen der altgriechischen Geschlechterverhältnisse finden sich übrigens bei Marx:
"Von Anfang bis Ende herrschte bei den Griechen ausgesuchte Selbstsucht unter den Männern vor, die die Achtung vor den Frauen so sehr verringerte, wie es selten unter Wilden gefunden wurde. Die Gebräuche der Jahrhunderte prägten den Gemütern der griechischen Frauen ein Inferioritätsgefühl auf. [Aber das Verhältnis der Göttinnen im Olymp zeigt Rückerinnerungen an frühere freiere und einflußreichere Position der Weiber. Die Juno herrschsüchtig, die Göttin Weisheit springt aus dem Kopf des Zeus etc.] Es war vielleicht. . . dieser Rasse nötig, um aus dem syndyasmischen in das monogame System herüberzukommen. Die Griechen blieben Barbaren in ihrer Behandlung des weiblichen Geschlechts auf der Höhe ihrer Zivilisation; ihre Erziehung war oberflächlich, der Verkehr mit dem anderen Geschlecht war ihnen verweigert, ihre Inferiorität ihnen eingeprägt, bis sie schließlich von den Frauen selbst als Tatsache akzeptiert wurde. Die Frau war nicht ein ebenbürtiger Gefährte des Ehemannes, sondern stand zu ihm in der Beziehung einer Tochter.
Siehe Becken Charicles.
Da die Triebfeder, welche die Monogamie hervortrieb, die Mehrung von Eigentum war und das Verlangen, es auf die Kinder zu übertragen - auf die legitimen Erben, die tatsächliche Nachkommenschaft des verheirateten Paares -, trat auf der Oberstufe der Barbarei - als Schutz gegen das Überleben einiger Teile der alten jura conjugalia - der neue Brauch auf: Abschließung der Frauen. Das Leben bei den zivilisierten Griechen war ein System der Beschränkung und Unterdrückung der Frauen. ... Die Zügellosigkeit - auffallend in griechischen und römischen Städten auf der Höhe ihrer Zivilisation - war aller Wahrscheinlichkeit nach das Überbleibsel eines alten, niemals völlig ausgerotteten ehelichen Systems, das, herabgefolgt von der Barbarei als soziales Übel, nun seine Ausschweifungen in dem Kanal des Hetärismus ausdrückte."
(Marx, Die ethnologischen Excerpthefte, Herausgegeben von Lawrence Krader, Frankfurt/M. 1976, S. 161f.)
Es fällt positiv auf, dass Marx hier ganz ohne Ausfälle gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen auskommt.
Im "Ursprung der Familie" gibt es noch weitere zwei Äußerungen zum Thema Homosexualität, die ich der Vollständigkeit halber anführen möchte, auch wenn sie inhaltlich nichts Neues bringen.
"Und dem klassischen Liebesdichter des Altertums, dem alten Anakreon, war die Geschlechtsliebe, in unserem Sinne, so sehr Wurst, daß ihm sogar das Geschlecht des geliebten Wesens Wurst war."
(MEW Bd. 21, S. 78)
"Sie (die Volksversammlung der alten Germanen, Verf.) ist zugleich Gerichtsversammlung; hier werden Klagen vorgebracht und abgeurteilt, hier Todesurteile gefällt, und zwar steht der Tod nur auf Feigheit, Volksverrat und unnatürlicher Wollust."
(MEW Bd. 21, S. 138/139)
Soweit Engels' Äußerungen im "Ursprung der Familie", die zur Veröffentlichung bestimmte und veröffentlichte Äußerungen waren und sind. Es ist ein grundlegendes Werk, über das Lenin 1919 schrieb:
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"Ich hoffe, daß Sie sich im Hinblick auf die Frage des Staates mit der Schrift von Engels "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" bekannt machen werden. Es ist das eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus, worin man zu jedem Satz Vertrauen haben, worin man sich darauf verlassen kann, daß kein einziger Satz aufs Geratewohl ausgesprochen, daß jeder auf der Grundlage eines riesigen historischen und politischen Materials niedergeschrieben ist."
Lenin, Über den Staat, LW Bd. 29, S. 425
Millionen von KommunistInnen und Kommunisten wurden anhand dieses Werkes geschult, und zusammen mit dessen richtigen Auffassungen wurden ihnen seine antigleichgeschlechtlichen und frauenzumpassivumerklärenden Schlussfolgerungen nahegebracht. Eben darum müssen die darin zum Ausdruck gebrachten rückschrittlichen Auffassungen entschieden kritisiert werden; nur so kann auch der revolutionäre Kern dieses Werkes klar herauszuarbeiten.
Die zeitlich gesehen nächste Äußerung stammt wieder aus einem Brief von Engels an Marx. Engels macht hier einen kleinen Scherz mit antischwulen Konnotationen:
" Wer ist dieser schwüle Dr. Borruttau, der ein so empfindliches Organ für die Geschlechtsliebe an den Tag legt?"
( MEW Bd. 32, S. 123)
Und Marx antwortet: "Von dem Dr. Borrutau, dem Schwanzschwülen, weiß ich weiter nichts als ..." (MECW, Bd. 43, S. 72)
Es geht hier gar nicht um Homosexualität, doch Engels und Marx halten es für angebracht, sich des Ausdrucks ‚schwül' zu bedienen. Die sprachliche Nähe zu schwul ist bekannt und war im 19. Jahrhundert noch viel größer als heute(vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig: S. Hirzel 1854-1960) und sie kann darum von den beiden sprachmächtigem Polemikern nur gewollt sein. Der Ausdruck wurde somit wegen seiner diffamierenden Qualität bewusst gewählt.
Die nächste Äußerung zum Thema stammt aus einem Brief Marxens an Engels. Marx benutzt den diffamierenden Ausdruck ‚Päderastenbuch' (zum Gebrauch des Wortes Päderast siehe weiter oben):
"Strohm... wünscht, dass Du ihm die Urnings, oder wie das Päderastenbuch heißt, zuschickst"
(Brief von Marx an Engels vom 17.12.1869, MEW Bd. 32, S. 421)
Adjektivierte Substantive, die verfemte Gruppen bezeichnen, und als Vorsilbe verwandt werden, haben im Deutschen keine gute Tradition: Zigeunerlager, Judenschule, Negermusik und Schwulensex sind, ebenso wie Päderastenbuch, Wortbildungen, zu denen RevolutionärInnen das Maximalabstandsgebot einhalten sollten, wenn sie ihre Ziele nicht aus den Augen verlieren wollen.
Erst 1890 findet sich wieder eine Äußerung zum Thema:
"Hier ist also wieder Sturm im Teetopf. Du wirst die Krakeelerei im "Labour Elector" gesehn haben wegen Parker , dem Unterredakteur des "Star", der in einem Lokalblatt den Lord Euston direkt der Päderastie beschuldigt hatte in Verbindung mit den bugger-Skandalen (Arschfickerskandalen, Verf.) unter der hiesigen Aristokratie. Der Artikel war infam, aber nur persönlich, politisch war die Sache kaum. Aber er erregte großen Skandal..."
(Engels an Friedrich Adolph Sorge , 8. Februar 1890, Marx/Engels, Werke, Bd. 37,S. 353)
Hier stellt Engels persönliche Momente solchen politischer Natur gegenüber, und bestreitet die politische Natur antischwuler Diffamierung. Dem kann ich so nicht folgen, da die Genesis dieses Widerspruchs (Privat vs. Öffentlich, siehe S.2 dieses Aufsatzes) schon zeigt, wie politisch diese gesamte Angelegenheit ist. Auf dieser geschichtlichen Grundlage kommt es bis zum heutigen Tag immer wieder vor, dass Protest gegen Antifeminines und Antischwules abgebügelt wird unter Hinweis auf den lediglich persönlichen und privaten Charakter dieser Unterdrückung.
Es ist gerade die Aufgabe von RevolutionärInnen, den historischen Ursprung der Trennung von Privatem und Politischem aufzuzeigen, und den allseitigen Kampf gegen Heteronormdiktat und Unterdrückung gleichgeschlechtlich Orientierter zu führen, ohne dem Privaten und Persönlichen irgendwelche Konzessionen zu machen, wenn unter diesem Deckmantel Repression zu entschuldigt oder geleugnet bzw. für irrelevant erklärt werden soll.
Die zeitlich gesehen letzte Äußerung zum Thema stammt wiederum aus einem Brief Engels an Marx. Es geht um das opportunistische Gothaer Programm der SPD (1875) und die Umstände seiner Entstehung:
"...Liebknecht ist natürlich wütend, da die ganze Kritik auf ihn speziell gemünzt war und er der Vater, der mit dem Arschficker Hasselmann zusammen das faule Programm gezeugt hat..."
(MEW Bd. 38, S. 30/31, Engels an F.A. Sorge, 11.2.1891)
Vor lauter Verachtung für "Arschficker" verstößt Engels hier sogar gegen die formale Logik. Der Vater zeugt mit dem Arschficker - wer fickt hier eigentlich wen? Ungewohnt, der Frage: wer - wen, die im Marxismus ja eine Rolle spielt, hier einmal in einem heterosexistischen Zusammenhang zu begegnen. Doch Scherz beiseite.
Klar, wer Schwule widerwärtig findet, sollte sie auch konsequenterweise als "Arschficker" bezeichnen. Zur Kritik des Opportunismus und Revisionismus hingegen trägt eine solche Beschimpfung allerdings nichts bei. Der einzige ‚mildernde Umstand' besteht hier wieder darin, dass der Lassalleaner Hasselmann in einem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Brief als "Arschficker" bezeichnet wird. Und in der veröffentlichten, von Marx unter dem Titel: "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" verfassten "Kritik des Gothaer Programms" wird Homosexualität nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Und zu Recht nicht, denn sexuelle Orientierung und Lasalleanismus haben per se wohl wenig miteinander zu tun.
Das scheint auch Marx so gesehen zu haben. Nebenbei: diese programmatische Schrift Marxens ist nach wie vor eine sehr lesenswerte grundlegende Kritik der lassalleanischen Vorstellungen vom freien Volksstaat, dem ehernen Lohngesetz, dem unverkürzten Arbeitsertrag, dem friedlichen Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus - kurz, all jenen sozialdemokratischen Unfugs, der bis heute fortwabert. Auch entwickelt Marx in diesem Werk die ökonomischen und politischen Grundlagen der klassenlosen Gesellschaft.
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Lasalle selbst war übrigens stockhetero und darin einmal unfreiwillig komisch. Er schrieb zur Verteidigung des oben erwähnten Schweitzer gegen dessen Verurteilung wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" :"Die Tat Schweitzers ist ja nicht schön, ich erblicke aber darin keineswegs ein Verbrechen. Jedenfalls kann uns das Vorkommnis nicht dazu veranlassen, einer so tüchtigen Kraft, ja eines so phänomenalen Menschen zu entraten. Die geschlechtliche Betätigung ist schließlich Geschmackssache und sollte jedem Menschen, sofern er nicht fremde Interessen verletzt, überlassen werden. Ich würde allerdings einem solchem Manne meine Tochter nicht zur Frau geben." (zitiert nach Detlef Grumbach, Die Linke und das Laster, Hamburg 1995, S. 21, Hervorhebung durch den Verfasser).
Es ist nicht bekannt, dass Schweitzer jemals um die Hand der Lasalleschen Phantomtochter angehalten hätte.
Was die Frage nach reaktionären Haltungen bei Marx und Engels anbelangt, so ergibt sich folgender Schluß:
Sie waren und sind die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, haben Bahnbrechendes geleistet, ragten weit über ihre Zeit hinaus, und doch waren sie Kinder ihrer Zeit. Sie haben die weltanschauliche Grundlage geschaffen, von der aus die klassenlose Gesellschaft, der Kommunismus, erkämpft werden kann, doch hatten sie noch nicht alle Fäden zur bürgerlichen Ideologie im Allgemeinen, und zur deutschen Ideologie im Besonderen, zerschnitten.
Die Deutsche Ideologie - eine traurige Geschichte
Warum ist die deutsche Ideologie bloß so eine reaktionäre, spießige und chauvinistische Angelegenheit? Dafür gibt es Gründe, die tief in der deutschen Geschichte wurzeln. Der Hauptgrund ist dieser: Das deutsche Volk hat bis zum heutigen Tage keine einzige erfolgreiche Revolution durchgeführt. Immer noch gilt, was Karl Marx schon 1842/3 in "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" schrieb:
"Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung."
Marx Engels Werke Bd. 1, Berlin, S. 379/380
· Die Bauernkriege endeten 1525 in einer Niederlage, an der auch der hochgepriesene Reformator und Antisemit Martin Luther seinen Anteil hatte. Er stellte sich auf die Seite der Fürsten und forderte, die Aufständischen umzubringen.
· Während das französische Volk 1789 die Feudalherren und das Königtum davonjagte und eine siegreiche bürgerliche Revolution durchführte, blieb Deutschland weiterhin feudal zersplittert.
· Die sogenannten "Befreiungskriege" von 1812 waren deutsch-chauvinistisch geprägt, es wurde Franzosenhass und Antisemitismus gepredigt.
· Das deutsche Bürgertum entwickelte sich verspätet, die bürgerliche Revolution von 1848 erlitt eine Niederlage.
· Der deutsche Nationalstaat bildet sich erst nach 1866, ausgerechnet unter der Führung des reaktionären Preußentums.
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Aus diesen Grundzügen der deutschen Geschichte ergeben sich die einzelnen Bestandteile der damaligen deutschen Ideologie, die seit dem 19. Jahrhundert wegen der zweimaligen Niederlagen des deutschen Imperialismus noch um den Revanchismus ergänzt wurde:
· eine unfassliche Autoritätsgläubigkeit und Staatsvergottung
· deutscher Chauvinismus und Herrenmenschenmentalität,
· Antisemitismus in allen Variationen
· Antiziganismus (Feindschaft gegen Sinti und Roma)
· Rassismus gegen alle Menschen nicht-weißer Hautfarbe
· Frauenfeindlichkeit und Männlichkeitswahn
· Nationalismus und Militarismus
· Heterosexismus (der auf dem Heteronormdiktat beruht,welches sich tief in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschrieben hat), also Verbreitung von Feindschaft gegenüber gleichgeschlechtliche orientierten Männern und Frauen, durch staatliche Diskriminierung, Lüge und Hetze bis hin zum Mord
· Selbstmitleid und Weinerlichkeit. Immer, wenn deutsche Chauvinisten eine Niederlage erleiden oder ihre Machenschaften enthüllt werden, sind nicht sie selbst schuld, sondern andere (Juden, Bolschewisten, schwule Verschwörungen)
· Antikommunismus - das begann mit der Reichsgründung 1871 und dem konterrevolutionären Krieg gegen die Pariser Kommune und setzte sich mit dem Verbot der damals noch revolutionären Sozialdemokratie durch Bismarck fort
· Reaktionäres Staatschristentum mit Konkordat und Kirchensteuer, wovon auch und gerade Schwule und Lesben ein Lied singen können
All diese Elemente bilden die reaktionäre deutsche Ideologie.
In der Haltung von Marx und Engels zu Frauen und Schwulen zeigt sich leider, dass trotz ihres Kampfes gegen das reaktionäre Preußentum und die reaktionäre deutsche Ideologie bei ihnen noch Berührungspunkte zu dieser bestanden, noch nicht alle Fäden durchschnitten waren, sie noch an manches anknüpften, was schon damals entschieden auf den Müll gehört hätte.
Manche und mancher mögen fragen, ob es denn wirklich notwendig sei, Marx und Engels, die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, des dialektischen und historischen Materialismus, in dieser Frage so hart zu kritisieren und ihren Heterosexismus und männliches Chauvinismus so entschieden zurückzuweisen?
Ich denke, dass diese Kritik geradezu überfällig ist, weil Position Marx' und Engels' zur Gleichgeschlechtlichkeit grundfalsch ist, die Einheit der ArbeiterInnenklasse und aller fortschrittlichen Kräfte entlang der Frage der sexuellen Orientierung unnütz spaltet, Schwule und Lesben vom wissenschaftlichen Kommunismus abhält, der Frauenunterdrückung und dem männlichen Chauvinismus direkt in die Hände spielt und seither erheblichen Schaden angerichtet hat. Man/frau denke nur einmal an die Wiedereinführung der Strafbarkeit mann-männlicher Sexualität in der Sowjetunion unter Stalin (vgl. T-Haus Nr. 1).
Darüber hinaus sind diese Positionen eingebettet in Überreste bürgerlicher Auffassungen darüber, was ein Mann und was eine Frau sei bzw. zu sein hätte. Marx und Engels haben sich unter Anderem riesige und bleibende Verdienste dadurch erworben, dass sie gezeigt haben, wie Frauenunterdrückung, Privateigentum an Produktionsmitteln, Klassengesellschaft und Staat am Ende der klassenlosen Urgesellschaft historisch entstehen, und wie diese durch den revolutionären Kampf des Proletariats, der über das notwendige Durchgangsstadium der revolutionären Diktatur des Proletariats zum Kommunismus führt, historisch wieder aufgehoben und abgeschafft werden können.
Es nützt nichts, sozialdemokratische und revisionistische Soße über die heterosexistische Linie zu gießen und sie so in Schutz zu nehmen, wie es zum Beispiel Götz Scharf tut: "Nur bitte ich, den beiden Alten mildernde Umstände zuzubilligen. 1869...gab es noch keine eigenständige Sexualwissenschaft."
(Götz Scharf, 5 von Hundert homosexuell, Berlin 1990, S. 17)
Zwar gab es damals noch keine Sexualwissenschaft, und auch noch keine schwulen- und Lesbenbewegung, aber es gab damals schon den von Marx und Engels selbst entwickelten dialektischen und historischen Materialismus, und den hätten die beiden durchaus auch auf die Frage der Homosexualität anwenden können.
Des weiteren gab es Zeitgenossen, die in diesem Themenkomplex (Lesben- und Schwulenunterdrückung sowie eigenständige Sexualität der Frau) entschieden weiter waren als Marx und Engels.
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Insbesondere ist hier Charles Fourier zu erwähnen. Engels schreibt über ihn:
"Wenn wir bei Saint-Simon eine geniale Weite des Blicks entdecken, vermöge deren fast alle nicht streng ökonomischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keime enthalten sind, so finden wir bei Fourier eine echt französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tief eindringende Kritik der bestehenden Gesellschaftszustände. Fourier nimmt die Bourgeoisie, ihre begeisterten Propheten von vor und ihre interessierten Lobhudler von nach der Revolution beim Wort. Er deckt die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Welt unbarmherzig auf; er hält daneben sowohl die gleißenden Versprechungen der frühern Aufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der alles beglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, wie auch die schönfärbenden Redensarten der gleichzeitigen Bourgeois-Ideologen; er weist nach, wie der hochtönendsten Phrase überall die erbärmlichste Wirklichkeit entspricht, und überschüttet dies rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitre Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten. Die mit dem Niedergang der Revolution emporblühende Schwindelspekulation ebenso wie die allgemeine Krämerhaftigkeit des damaligen französischen Handels schildert er ebenso meisterhaft wie ergötzlich. Noch meisterhafter ist seine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung des Weibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist. Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vier Entwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetzt sogenannten bürgerlichen Gesellschaft, also mit der seit dem 16. Jahrhundert eingeführten Gesellschaftsordnung zusammenfällt, und weist nach, "daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt" daß die Zivilisation sich in einem "fehlerhaften Kreislauf" bewegt, in Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erreichen will oder erlangen zu wollen vorgibt. So daß z.B. "in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt.
Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, daß jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an. Wie Kant den künftigen Untergang der Erde in die Naturwissenschaft, führt Fourier den künftigen Untergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung ein."
(F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 196/7)
Marx schreibt:
" Fourier charakterisiert die Epoche der Zivilisation durch Monogamie und Grund-Privateigentum. Die moderne Familie enthält im Keim nicht nur servitus (Sklaverei), sondern auch Leibeigenschaft, da sie von vornherein Beziehung hat auf Dienste für Ackerbau. Sie enthält in Miniatur alle die Antagonismen in sich, die sich später breit entwickeln in der Gesellschaft und ihrem Staat. ."
(Karl Marx, Die ethnologischen Excerpthefte, Herausgegeben von Lawrence Krader, Frankfurt/M. 1976, S .160)
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Und Engels erklärt sogar:
"Ich beabsichtigte anfangs, die brilliante Kritik der Zivilisation, die sich in den Werken Charles Fouriers zerstreut vorfindet, neben diejenige Morgans und meine eigene zu stellen. Leider fehlt mir die Zeit dazu."
( F. Engels, Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 172)
Fourier genoß bei Marx und Engels also größte Wertschätzung. Engels hatte Fouriers Werke gründlich studiert und kannte sie gut.
Folgende Hinweise Fouriers ignorierte Engels allerdings leider vollständig:
"Sexuelle Integrität bringt die Geschlechter einander näher, wenn nichts mehr verboten oder unterdrückt ist, dann würden Brücken zwischen den sexuellen Identitäten geschlagen, zu sapphischen und päderastischen Lieben, und diese Überbrückung der Kluft zu weniger verbreiteten sexuellen Vorlieben ist notwendig für Harmonie".
"Die Frau ist kein Objekt von Lust, sondern aktive Teilnehmerin." ;
(zitiert nach: Saskia Poldervaart, Theories about Sex and Sexuality in Utopian Socialism,
Journal of Homosexuality 2/3 1995, S. 49, Übersetzt vom Verfasser)
Fourier bringt hier zwei Auffassungen klipp und klar zum Ausdruck: er erkennt gleichgeschlechtliche Lieben an, und er betont die aktive Rolle der Frau in der Sexualität. Engels hätte gut daran getan, über diese wertvollen Hinweise nachzudenken und sie umzusetzen. Auch war Marx und Engels, wie oben gezeigt, mindestens eine Schrift von Ulrichs bekannt.
Marx und Engels sind voll verantwortlich für ihre heterosexistischen Auffassungen, die inhaltlich dem revolutionären Wesen des Marxismus widersprechen. Bei der kritischen und selbstkritischen Auswertung der Erfahrungen des Weltproletariats und der unterdrückten Völker im 19. und 20. Jahrhunderts, den revolutionäre MarxistInnen überall auf der Welt heute vornehmen müssen, damit der kommunistischen Sache einen neuer Anlauf zur Schaffung der klassenlosen Gesellschaft gelingen kann, kann es nur so sein, daß Heterosexismus und männlicher Chauvinismus widerlegt und geächtet werden, und es muß deutlich werden, daß der Kampf gegen das Heteronormdiktat, gegen die besondere Unterdrückung gleichgeschlechtlich Orientierter integraler Bestandteil des Kampfes für die klassenlose Gesellschaft ist. Selbstverständlich haben Schwule und Lesben auch in diesem Kampf ein gewichtiges Wort mitzusprechen.
Dabei gilt nach wie vor:
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab."
(Karl Marx, Vorrede zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, S. 8/9)
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