Einleitung:
Am 7. März 1934 wurde die Strafbarkeit mann-männlicher Sexualität in der Sowjetunion wiedereingeführt. Dies geschah auf Initiative des damaligen Geheimdienstleiters Jagoda und fand prompt Stalins Zustimmung. "Diese Schurken exemplarisch bestrafen", schrieb J. W. Stalin unter Jagodas Gesetzesentwurf.
Diese Entwicklung war ein klarer Bruch mit der Leninschen Tradition in dieser Frage. Nach der Oktoberrevolution hatte der neugeschaffene Arbeiter- und Bauernstaat das zaristische Strafrecht sofort außer Kraft gesetzt, und damit auch die Strafbewehrung mann-männlicher Sexualität, wie sie unter dem Zarismus bestanden hatte. In der Neufassung des Strafgesetzbuches von 1922 und von 1926 blieb es für die europäischen Unionsrepubliken einschließlich der russischen bei der Nichterwähnung gleichgeschlechtlicher Sexualität, also der Straffreiheit. Diese Position der Bolschewiki war ein gewaltiger Fortschritt. In Deutschland z.B. bestand bekanntlich damals der § 175, der einvernehmliche mann-männliche Sexualität unter Strafe stellte.
Im Zusammenhang mit der Revision der revolutionären Errungenschaften der Oktoberrevolution, welche von der Stalin-Gruppe betrieben wurde, kam es auch zur erneuten Illegalisierung Gleichgeschlechtlicher. Dazu veröffentlichen wir hier die Note des damaligen Geheimdienstleiters G. Jagoda an Stalin, und den dazugehörigen Gesetzesentwurf.
Jagoda beklagt sich in seiner Note über Päderasten (dieser Ausdruck wird gleichbedeutend mit Homosexuellen benutzt), die Orgien feiern und Rotarmisten verführen, ohne dass man sie bestrafen kann. Um diesem "Missstand" der fehlenden Strafbarkeit abzuhelfen, legt er seiner Note gleich einen Gesetzesentwurf bei. Stalin stimmte diesem zu, dann das Politbüro, und dann wurde dieses schändliche Gesetz Realität. Übrigens wurden nur gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Männern, nicht aber solche zwischen Frauen unter Strafe gestellt. Das deutet auf Ungleichberechtigung zwischen Männern und Frauen hin, auf eine Geringschätzung der Sexualität von Frauen seitens der Führung der KPdSU(B).
Gustav Kluzis (um 1934): "Das Leben ist besser geworden, das Leben ist fröhlicher geworden". J.W. Stalin Für schwule Männer galt das nicht... Quelle: Köln, Museum Ludwig. Kat.IV/6
All das geschah ohne jede öffentliche Diskussion. Hier wird deutlich, in welche Richtung sich die gesellschaftlichen Zustände in der SU bereits entwickelt hatten. Lenin machte klar:
"Die Bourgeoisie hält nur dann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Regierungsapparates die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohin es die bürgerlichen Machthaber wollen. Unser Begriff von Stärke ist ein anderer. Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun."
(Lenin, "Schlußwort zur Rede über den Frieden", 1917, Werke Band 26, S. 246)
Das Prinzip der Bewusstheit der Massen, von dem Lenin hier spricht, wurde von den Stalin-Leuten bei der Einführung des antischwulen Paragraphen gröblich verletzt, und "der Schluß
von der Schlechtigkeit des Mittels auf die Schlechtigkeit des Zwecks ist ganz gerechtfertigt."
(Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, S. 400).
Die Wiedereinführung der Strafbarkeit mann-männlichen Sexes war nur ein Schritt bei der Wiederherstellung bürgerlicher Verhältnisse in der Sowjetunion. Weitere Schritte folgten bald, im Bereich der Familienpolitik unter anderem:
Die Ehescheidung wurde erschwert, die Abtreibung verboten (1936) , und schließlich gab es sogar Medaillen für Mutterschaft:
"In der Sowjetunion werden die Mütter wie noch niemals und nirgends auf der Welt geehrt, wofür die Auszeichnung von Frauen, die zehn und mehr Kinder geboren und großgezogen haben, mit dem Titel "Mutterheldin" ein sichtbarer Ausdruck ist. Es gibt im Sowjetland weit mehr als 30000 Mütter, die den Titel "Mutterheldin" tragen, und mehr als 2 800 000 Mütter, die mit dem Orden "Mutterruhm" und mit der "Muttermedaille" ausgezeichnet sind."
Über kommunistische Moral, Berlin 1953, S. 150
Familie: Höchstes Glück- die Sowjetfamilie... Die Familie des Kommandanten, 1938, Moskau. Zentrales Armeemuseum. Kat. IV/16
Wo Unterdrückung ist, gibt es Widerstand, stellte Mao Tse-tung einmal fest. Ein Beispiel dafür ist der schwule britische Kommunist Harry Whyte, der damals im Redaktionskollektiv der Moscow News in Moskau arbeitete. Er schrieb einen Protestbrief an den Generalsekretär des ZK der KPdSU (B), J. W. Stalin gegen das neue, antischwule Gesetz. Dazu gehörte großer Mut. Harry Whytes russischer Freund war bereits verhaftet worden.
Im Folgenden veröffentlichen wir zum ersten Mal in deutscher Sprache diesen Brief, den die Jelzin-Regierung 1993 erstmalig und auf Russisch veröffentlichte (übrigens unter der unverschämten Überschrift: "Aus den Archiven des Humors", als ob Unterdrückung von Schwulen und der Kampf dagegen eine humorige Angelegenheit seien).
Der Historiker Dan Healey wertete dieses Dokument in seinem Buch: Homosexual Desire in Revolutionary Russia (University of Chicago Press, 2001) aus, und ich habe dann die Übersetzung dieses Briefes aus dem Russischen ins Deutsche veranlasst.
Über Harry Whyte als Person war nichts herauszufinden, außer den Angaben, die er am Ende seines Briefes über sich selbst macht. Desgleichen bleibt leider die Identität seines russischen Freundes unbekannt.
Nun zum Inhalt des Briefes von Harry Whyte. Der Ausgangspunkt seines Briefes ist die heute noch gültige Feststellung:
Die Lage der Homosexuellen im Kapitalismus ist im Ganzen analog der Lage der Frauen, farbiger Rassen, nationaler Minderheiten und anderer Gruppen, die aufgrund dieser oder jener Gründe Unterdrückung ausgesetzt sind.
Für sehr gut halte ich auch die Art und Weise, wie Whyte Stalin über die Gleichmacherei zitiert und diese Aussage Stalins heranzieht, um den ganzen Widersinn der erneuten Schwulenverfolgung nachzuweisen.
Arbat: Der Arbatplatz, ca. 1930. Ein Treff kontaktsuchender Männer am Moskauer Stadtring. Quelle: die Sammlung Dan Healeys.
Whytes Argumentation gegen die antischwule Haltung dem Verfasser des Homosexualitätseintrags in der Großen Sowjetenzyklopädie von 1930 gegenüber halte ich für korrekt. Ein Standpunkt ist stets nach seiner Richtigkeit und nicht nach der sexuellen Orientierung des/der Verfassers/Verfasserin zu beurteilen.
Ich sehe allerdings in Whytes Ausführungen eine Reihe von Fehlern und schiefen Argumenten, auf die ich hier näher eingehen möchte:
1.Whytes Unterscheidung zwischen konstitutionellen Homosexuellen und solchen, die aufgrund von Lasterhaftigkeit oder Armut gleichgeschlechtlich handeln, ist kompletter Unfug. Weder Armut noch Reichtum haben direkte Auswirkungen auf die sexuelle Orientierung, und - wie Kinsey gezeigt hat, sind die Übergänge von anders- zu gleichgeschlechtlicher Orientierung fließend. Wenn im Übrigen Homosexualität aus Überdruß an der Heterosexualität entstehen kann, dann müsste das umgekehrt ja auch gelten, und es gäbe eine Menge früherer Schwuler, die aus Überdruß an der Männerliebe sich den Frauen zugewandt hätten.
2.Whytes Ablehnung einer jeden organisatorisch selbständigen Schwulen- und Lesbenbewegung ist grundfalsch, wie die Geschichte gezeigt hat. Ohne eigene Anstrengungen wäre die Lage von Lesben und Schwulen heute bedeutend schlechter aus, sie wüssten viel weniger über ihre eigene Geschichte, und ihr Selbstbewusstsein wäre weniger entwickelt.
3.Whytes Einschätzung der beiden Briefe von Friedrich Engels ist verkehrt. Engels Brief vom 22.6.1869 ist eine Darlegung seines antischwulen Standpunkts, und es gibt nichts Lobenswertes an diesem Brief. Engels geht in diesem Brief sogar so weit, auf die Fortdauer des antischwulen Sonderparagraphen (später §175) im Strafgesetzbuch zu hoffen. (Marx/Engels, Werke, Bd. 32, S. 324 ff.) Auch Whytes Haltung zu Engels Brief vom 8.2.1890 ist falsch: antischwule Pressekampagnen gegen Schwule als Schwule, auch wenn diese der herrschenden Klasse angehören, sind stets politisch und nicht privat, weil sie der Verfestigung der Diskriminierung Gleichgeschlechtlicher dienen, und insofern muß das revolutionäre Proletariat, müssen Kommunisten einem solchen Dreck entschieden entgegentreten. (Zum Gesamtkomplex der Haltung von Marx und Engels zu Gleichgeschlechtlichen werden wir demnächst einen Aufsatz veröffentlichen, der diese Frage tiefer und genauer untersucht).
Stalin würdigte Harry Whyte keiner Antwort. Er schrieb auf Whytes Brief: (ins Archiv) "Ein Idiot und Degenerierter. J. Stalin."
Die antischwule Linie, die sich in den dreißiger Jahren unter Führung Stalins in der Sowjetunion und der gesamten kommunistischen Bewegung ausbreitete, hatte erhebliche Folgen. Nach dem Sieg über die Nazifaschisten und der Errichtung der Volksdemokratien sowie dem Sieg der chinesischen Revolution fand diese antischwule Linie Eingang ins Strafgesetzbuch all dieser Staaten. In der späteren DDR wurde der § 175 in der vornazistischen Fassung wieder in Kraft gesetzt (in der späteren Bundesrepublik galt der Naziparagraph unverändert weiter), und schwule KZ-Häftlinge wurden nicht als Opfer des Faschismus anerkannt. Ein Teil der Verantwortung dafür trägt Stalins antischwule Linie, einen weiteren Teil trägt die SED, die von Anfang an deutschnationalen und rechtsopportunistischen Auffassungen eine Heimstatt bot, so auch in dieser Frage.
Die Nikitskie-Tore, ein Platz am Moskauer Boulevard-Stadtring, damals ein bekannter Treff. Hinter dem Denkmal gab es unterirdische Toilettenanlagen, in denen Männer in den 1920ern und 1930ern Sex hatten. Quelle: Photo undatiert, späte 20er Jahre. Aus der Sammlung Dan Healeys.
Für uns, die wir heute leben, gilt:
Es hat Hunderte von Jahren gedauert, bevor der Kapitalismus über den Feudalismus gesiegt hatte. In unserer historischen Epoche besteht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeit, den Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft zu erkämpfen, in der alle auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Beziehungen zwischen den Menschen abgeschafft sein werden:
"An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (Marx/Engles Manifest der Kommunistischen Partei, Werke Bd.4, S. 482)
Dieser Kampf dauert jetzt schon über 150 Jahre. In dieser Zeitspanne gab es großartige Siege, aber auch gewaltige Niederlagen. Aus diesen Niederlagen zu lernen ist die Vorbedingung künftiger Siege. Schwule und Lesben müssen hier mitreden und mithandeln, damit die weltgeschichtlich gesehen nächste Runde für alle revolutionären Kräfte besser ausgeht und der Kommunismus näher rückt.
Die Veröffentlichung der folgenden Dokumente möge ein kleiner Beitrag dazu sein.
Im einzelnen veröffentlichen wir:
1. Jagodas Note an Stalin, seinen Gesetzesentwurf und Stalins Kommentar (erstmalig auf Deutsch).
2. Harry Whytes Protestbrief an Stalin (erstmalig auf Deutsch)
3. Auszüge aus der Großen Sowjetenzyklopädie von 1930 (angeführt von Harry Whyte) und den gesamten Eintrag über Homosexualität aus der Großen Sowjetenzyklopädie von 1952 (erstmalig auf Deutsch). Er bringt die "Theorie" der Stalinzeit über gleichgeschlechtliches Verlangen auf den Punkt.
Berlin, im März 2005
Michael Hellmann
|
|
Willkommen im T-Haus von etuxx!
Ab sofort möchte ich Ihnen hier Texte präsentieren, die Geschichte und Gegenwart
des Heterosexismus und des Kampfes dagegen beleuchten. Vergessene Originale, Fremdsprachiges in Übersetzung, nichts soll hier ausgespart werden, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient.
Denn ohne Theorie wird die Praxis blind. Geschichtskenntnisse sind unverzichtbar bei der Veränderung der Gegenwart. Hier zur Erhellung beizutragen, nehmen ich mir vor.
Erster Schritt: Sonnenbrillen ab.
Zweiter Schritt: Rein in die Archive.
Dritter Schritt: Öffentlich machen!
Wer hier etwas beitragen und veröffentlichen möchte, möge sich mit mir in Verbindung setzen: michael[at]etuxx.com
Und nun viel Spaß beim Tee trinkenden Theoretisieren.
Michael Hellmann
Die Verhältnisse zum Tanzen bringen, indem man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.

Jagodas Note an Stalin, sein Gesetzentwurf und Stalins Kommentar

Harry Whytes Protestbrief an Stalin

Auszüge aus der Großen Sowjetenzyklopädie 1930, 1952, 1972

|