"Die meisten Männer wollen "es"
- aber keiner will's gewesen sein…?"
Reiseimpressionen aus der Türkei im Frühjahr 2005

von Dieter Telge

Ostern 2005 in Istanbul - Abschluß eines Sprachkurses bei GLADT - Gays und Lesbians aus der Türkei e. V., der Berliner Organisation für türkeistämmige gleichgeschlechtlich Orientierte oder transgender Lebende.

Ein halbes Jahr lang, pro Woche einen Abend von drei Stunden, haben wir Türkisch gelernt bzw. verbliebene Vorkenntnisse aufgefrischt. Von einem knappen Dutzend Leuten blieb etwa die Hälfte übrig, von den Frauen nur eine Lesbe, und auf die Abschlußreise gehen nur noch vier Schwule plus türkeistämmiger "Lehrkraft", einige mitsamt ihrer Männer.

Viel Sprachfähigkeit ist nicht hängen geblieben, und untereinander wird doch meist deutsch gesprochen. Auf dem Programm ein Besuch bei Lambda, dem Istanbuler Pendant zu GLADT. Vor 12 Jahren gegründet in Folge von Konflikten mit der Staatsmacht beim damals ersten CSD, residiert die Gruppe heute in einer Seitenstraße im europäisch geprägten Teil des Stadtzentrums (Beyoglu), wo auch das einschlägige Nachtleben organisiert wird, denn das gibt es in den türkischen Großstädten längst.

Die Altbauwohnung im dritten Stock erinnert sehr an den diskreten Charme der (Neu-)Anfänge westeuropäischer Homogruppen der siebziger Jahre. Wir sitzen zu acht in einem kleinen Raum, der zugleich die umfängliche Bibliothek mit überwiegend englischsprachiger Literatur und - Attribut der Neuzeit - vielen DVDs wie auch das Beratungstelefon beherbergt. Immer wenn es klingelt - und das tut es ständig - rennt der zuständige Ehrenamtliche herein, verschwindet hinter dem dünnen Paravent und berät mit lebhafter Stimme, dieweil wir die unsere dämpfen müssen.

In bestem Englisch informiert uns ein junger Mann beim obligat gastfreundlich gereichten Tee über die Gruppe. Etwa 200 Personen nutzen derzeit mehr oder weniger regelmäßig die Termine zur Begegnung und zu Filmvorführungen, die meist mit eigens produzierten türkischen Zusammenfassungen der überwiegend ausländischen Produktionen dargeboten werden. Der aktive Anteil sind etwa 50 Mitglieder, die die Vereinsarbeit tragen, nach Aussage unseres Gastgebers zu etwa gleichen Anteilen Lesben und Schwule, aber immerhin auch knapp 15 davon transsexuell bzw. transgender lebend - Relationen, wie wir sie im Westen bisher eher selten erreichen und die mich spontan an ähnliche Eindrücke aus Brasilien erinnern, einschließlich der vergleichbaren Handicaps und Gewalterfahrungen, die die Betreffenden und insbesondere die Transsexuellen da wie dort zahlreich zu ertragen haben.

Herein platzt M., transsexuelle Aktivistin der allerersten Stunde, und berichtet uns vom solidarischen Kampf der Huren, viele von ihnen Transsexuelle, denen - auch dies eine Parallele zu Südamerika - lange Zeit kaum andere Berufsfelder offen standen. Schon in den 80er Jahren und damit lange vor den Schwulen organisierten sie sich und ihre Gegenwehr gegen die Übergriffe der Organe der Militärregierung. Mit ihren langen Haaren und ihrem Anti-Bush-Sticker auf der Militärstofftasche erinnert sie mich zwischen den jungen homoerotischen Hüpfern im positivsten Sinne an unentwegte westdeutsche Altlinke. Auch die Politik von Lambda passt dazu: Staatsknete, ohnehin nicht in erreichbarer Nähe, wird prinzipiell abgelehnt, und die eigene Unabhängigkeit soll auf der Basis von Spenden gewährleistet bleiben. Auch EU-Mittel sind nicht begehrt, dies aber offenbar ohne Prinzipienreiterei, da uns kurz darauf von einer geringen Fördersumme der EU über eine niederländische Partnergruppe berichtet wird.

Im November will M. einer Einladung nach Wien zu einer internationalen Konferenz über Transexualität/Transgender folgen. Wir überlegen spontan, sie zu einem Abstecher nach Berlin einzuladen, und sie sagt sofort ihr Interesse zu. (Inzwischen wird u. a. von GLADT und Amnesty International an der Vorbereitung einer Berliner Tagung gearbeitet, die am 24. November 2005 starten wird.)

Nach individuellen Besuchen in einem der vielen örtlichen Hamams, der typischen öffentlichen Bäder im islamischen Kulturkreis, wie auch des einschlägigen Nachtlebens reist unsere Gruppe nach dem Osterwochenende wieder ab. Mit einem Ticket für zwei Wochen später bleibe ich allein zurück, um mich in den Süden durchzuschlagen und vielleicht doch noch etwas Türkisch zu üben. Ein Kälteeinbruch (Istanbul im April 4° Celsius) treibt mich umgehend an die (süd-)westliche Ägäisküste nach Izmir, wo das Thermometer prompt von 21° bis auf 9° (immerhin!) fällt. Diese Stadt, der man ihre Handelstradition und Europaorientiertheit mehr anmerkt als ihre Jahrtausende währende griechische Vergangenheit, scheint mir im Vergleich zu Istanbul überschaubar; zwischen Uferpromenade und Bahnhof fühle ich mich nach Stunden heimisch und glaube zu spüren, wie die Stadt tickt. In diesen südlichen Gefilden ohne Heizungsanlagen genieße ich mein nach Süden gerichtetes Erkerzimmer (von morgens bis abends Sonne) sehr. Das schlichte Haus im Bahnhofsviertel beherbergt außer der Wirtsfamilie und mir offenbar überwiegend ältere männliche Dauergäste sowie reisende Einheimische. Ohne eigenes Bad habe ich den Preis auf 3 Euro pro Nacht drücken können, die ortsübliche Unterkannte, wie mir später ein in Izmir geborener Schlachter aus Bremerhaven in breiter deutscher Wortgewalt versichern wird.

Wie schnell weiß ich diese stets aufs Neue mich überraschende Ansprache (in meist bestem Hochdeutsch mit individuellen Dialekteinschlägen) der in Deutschland aufgewachsenen und sozialisierten Rückkehrer zu schätzen und empfinde Respekt: Wohl nie in meinem Leben werde ich eine Zweitsprache so gut beherrschen, wie all diese hier das Türkische und das Deutsche - und schon gar nicht Türkisch, das ich auf häufige Nachfrage stets als "fast so schwer wie Deutsch" einstufe. Und wie hasse ich die stets gleiche Erzählung dieser nach nicht näher beschriebenen kriminellen Handlungen abgeschobenen Kölner, Berliner, Offenbacher, Recklinghausener türkischer Abstammung, die nun leben müssen, wo sie so nicht hingehören und nicht sein wollen. Nach einigen Tagen schimpfe ich bereits von mir aus über diese Praxis unserer deutschen Staatsmacht, die ja auch nicht unsere deutschstämmigen Kriminellen nach, meinetwegen, Sibirien entsorge, und ernte prompt weitere Offenbarungen von exilierten Türkeistämmigen, die sich zunächst nur als Urlauber erklärt hatten.

Keines meiner Gespräche rührt auch nur im Entferntesten an Schwulitäten, gerade mal der Schmerz der Trennung von Frau und Kind(ern) wird Thema, und ich bin von Haus aus viel zu schüchtern, um Gespräche auf Sexualität zu bringen. So freue ich mich nach einer weiteren Woche und (endlich!) erfolgtem Klimawechsel auf ein Wochenende bei Ziya, einem Freund aus Berlin, der vor 30 Jahren aus seiner Geburtsstadt Istanbul kam und inzwischen häufig wieder dort ist, weil er ein Haus baut. Ich besuche ihn also auf seiner Baustelle und erlebe die Stadt im Sonnenschein und aus der einheimischen Perspektive. Er erklärt mir das Funktionieren der Gesellschaft über den Stellenwert des sogenannten "Bumbum", d. h. die Frage, ob der Sex stattfand oder nicht, respektive, wie gut oder schlecht er erlebt wurde. Ich bin unsicher, wie sehr diese, mir männlichund sexistisch erscheinende Sicht ironisch gemeint ist, und werde es nicht herausfinden. Sein Schimpfen auf die eingeborenen "Penner", die alles falsch anfingen, kontere ich stets mit vorsichtigem Protest, doch er insistiert. Ich empfinde ihn als längst westlich sozialisierten Deutschen türkischer Herkunft, der hart urteilt wie alle Konvertiten, und versuche vergeblich, die gescholtenen Landsleute in Schutz zu nehmen, wiewohl ich empfinde, dass seine Kritik oft zutrifft. Seinen Hass auf die ständig steigende Zahl der Kopftücher tragenden Frauen, die aus Ostanatolien in die armen Stadtviertel fluten wie einst in die entsprechenden in Kreuzberg und Köln-Deutz kann ich besser nachvollziehen. Er ist fremd geworden in seiner alten Heimat… Ziya bietet auch an, mir den Kontakt zu türkischen Männern herzustellen. Als Sprachkundiger könne er die Einladung zum Tee und die Kommunikation gewährleisten, und dann würde ich schon sehen. Theoretisch ist mir der kulturell bedingt völlig andere Umgang mit Sexuellem und also auch Gleichgeschlechtlichem sehr wohl präsent. Praktisch schien mir aber in knapp zwei Wochen keiner meiner Tee- und Gesprächspartner auch nur leiseste Andeutungen solchen Interesses zu machen. Bin ich zu unsensibel, zu sehr auf die westlichen Rituale der szenespezifischen Anmache fixiert? Keine Frage, ich würde schon gelegentlich wollen, allerdings ohne den hiesigen, mir geheimnisvoll Fremden im rassistischen Beuteraster zu suchen. Doch als westeuropäisch sozialisierter Coming-out-Schwuler aus den Siebzigern tue ich mich schwer mit der mir nahe gelegten Vorstellung, die meisten Männer in der Türkei wollten zwar, möchten es hernach aber nicht gewesen sein. Auch der Gedanke, das Geschlecht der genutzen Löcher sei egal, sofern mann sein eigenes nicht hinhielte, lässt bei mir keine Vorfreude aufkommen.

So lehne ich - töricht oder nicht sei dahin gestellt - Ziyas freundliche Angebote ab. Nach Diskos stand mir eh noch nie der Sinn, die Diskretionsgebote aus dem Spartacus Gay Guide haben mir auch den Gang in Hamams oder die angeblich einzige schwule Sauna verleidet. Szenebericht? Fehlanzeige! Ich beschließe, ihm Lambda zu zeigen, was charmant wie beim ersten Besuch abläuft. Dort preist uns eine junge Transe die Bar "Rosinante", von einer Lesbe geleitet. Diese begrüßt uns freundlich und lässt sich per Rückfrage bei mir bestätigen, dass ich "gay" sei. Am späten Samstagabend habe sie mehr lesbische und schwule Gäste, ca. 90 Prozent. Wir beschließen, wieder zu kommen, und erleben, wie gegen Mitternacht zum Sonntag die drei bis vier schwul wirkenden Gäste zügig gehen und uns zwischen lauter Heteropaaren und deutlicher sexueller Anmache zurück lassen. Wir bereuen nichts, denn es ist nett und angenehm hier, und wir haben etliche Partien Backgammon absolviert, wie die meisten hier, wobei ich natürlich immer gegen meinen in diesem Volkssport kundigen Partner verloren habe.

Auf der Rückfahrt im Gemeinschaftstaxi, dem sogenannten dolmus, sitzen wir hinter zwei jungen Männern. Jetzt, nach Mitternacht, sehe ich zum ersten und einzigen Mal auf dieser Reise, wie ein Einheimischer geradezu gierig auf seinen Nachbarn schaut. Sie werden noch lange nicht schlafen, das ist unübersehbar. Ich mache meinen Begleiter darauf aufmerksam. Er schaut fast teilnahmslos, als sei das nichts Besonderes. Ich spüre, dass ich noch längst nicht verstanden habe…

Das Wochenende vergeht viel zu schnell und ich reise ab mit der Absicht, bald wieder hier zu sein, mutiger, neugieriger und offener, mich auf kulturspezifische Zugänge zum gleichgeschlechtlichen Begehren einzulassen.

Jörg Litwinschuh: Ein sehr einfühlsamer Reisebericht, lieber Dieter!  Respect Gaymes Sept. 2006
Hans-Peter: Ja, einfühlsam bis zur Langeweile. Gähn!  
Heiko: Lieber Telge, Du scheinst wenig mitzubekommen von Deiner Umwelt. Da ist dann eh egal, ob Du in der Türkei bist oder in Deutschland. Dein Reisebericht ist irgendwie ermüdend...  
Brenda für die Redaktion@Heiko: es wäre schön, wenn beleidigende Bemerkungen, vor allem wenn sie zur Diskussion nichts beitragen, hier unterbleiben würden. Insbesondere privat inspirierte Äußerungen wie "du scheinst wenig mitzubekommen von Deiner Umwelt" haben hier nichts zu suchen, bzw. wenn sie nicht privat, sondern aus dem Text abgeleitet sind, könnten sie fairerweise wenigstens begründet werden.  
Sascha B.: Liebe Brenda, dass persönlich beileidigende Bemerkungen wie die von Heiko ("Du scheinst wenig mitzubekommen...") unterbleiben sollten, ist keine Frage. Es sollte aber hier schon möglich sein, einen Text auch formal zu bewerten (s.o.: "langweilig", "ermüdend") - auch wenn dergleichen keine inhaltliche Auseinandersetzung voranbringt. Eine Aufsplittung von etuxx-Beiträgen in literarische (Broiler, Horst W., Kulturhaus etc.) vs. Sachtexte fände ich problematisch.  
Tom: Dieter irgendwie ging's dir wie mir, schön so was zu lesen.  
Brenda@Sascha B.: wer redet denn von Aufsplittung? Ich fand es nur angemessen, trotz der Hitze einen gewissen Respekt vor den AutorInnen zu wahren.  
vadda-als-literaturkritiker: also ich finde diesen text hier sehr gut, weil der gegenstand, der da reflektiert werden will in formaler hinsicht - also in seiner sprachlich-literarischen qualität - adäquat umgesetzt ist. (ok, das war jetzt das verquastete lob, das ich je schrieb. aber trotzdem ganz ohne ironie!) wer das ermüdend etc. findet, kritisiert m.e. nicht thema und text, sondern den autor dahinter. und das gehört sich einfach nicht. wer probleme mit den politisch-persönlichen haltungen des schreibers hat, soll sie gegen jenen aufführen und nicht blöde-pauschal an seiner art zu schreiben rumkritteln. basta!  
donna San Floriante, Literaturkritik: Das "verquastetste" Lob muss es heissen, das Du je schriebst. Wobei ich allgemein der Auffassung bin, dass sich Worte wie "verquast" (mit 'st' am Ende) unter stilistischen Gesichtspunkten selten zum Superlativ eignen. Gruss aus Tokio.  
Quastenflosser: Gut, dass wir jetzt über Sprachästhetik sprechen, dann ist das hier nicht mehr die verwaisteste Diskussion...  
Donna San Floriante, Literaturkritik: got my point, honey...  
antos: Ich kann mich diesem verschwurbelten Lob über mir nur anschließen und frage mich und dich, Heiko (hallo!?): Was hättest Du denn statt Dieters Bericht, der passend mit 'Reiseimpressionen' überschrieben ist und genau diese auch bietet, lieber lesen mögen?  
Heiko: ich hätte gerne mehr sex gelesen.  
vadda: dann kauf dir doch einen erotischen roman bei bruno gmünder  
etuxx-Archiv-Eule@Heiko: nicht der Hit, aber schon bischen mehr von Ficken, Ficken und immer an die Leser denken:  Sex im Katastrophengebiet
heinsen blödsen: der artikel von die telge ist einfach mal literarisch mies und langweilig, und er trägt zur aufklärung (die doch bitte unser aller anliegen sein sollte) nicht viel bei. das ist eigentlich auch alles, was dazu zu sagen wäre.  
heinsen @ vadda: du z.b. hättest das übrigens besser hinbekommen. das istr nun mal das, was ich (von dir) weiss und denke.  
oa@heinsen blödsen: schön. dann dürfen wir ja demnächst eine koproduktion erwarten. autor: vadda, lektor: heinsen. thema: "aufklärung".  
[xxx]: gelöscht.  
Claus-Wilhelm Klinker: Lieber Dieter, ich habe Deinen einfuehlsamen Bericht gern und mit Gewinn gelesen. Die teils verletzenden Kritiken finde ich unangemessen und ich hoffe, sie tun Dir nicht zu sehr weh.  
Brenda: lieber Dieter, gerade zurückgekehrt von einer Istanbulreise mit vier schwulen (nicht-türkischen) Freunden, kann ich Deinen Reisebericht absolut nachvollziehen und Du sprichst mir in jeder Beziehung aus dem Herzen. Besonders auch der letzte Satz.