Vielfalt statt Einfalt
Der etuxx-Redebeitrag zur antifaschistischen Demonstration am 8. Mai 2005

von Bodo Niendel



Zunächst möchte ich stellvertretend auf einen Schwulen hinweisen, der am 8. Mai 1945 befreit wurde. Es ist Gad Beck: Er überlebte als jüdischer Zwangsarbeiter in Berlin. Er half bis kurz vor der Befreiung am 8. Mai etwa 100 Juden, sich in illegalen Wohnungen zu verstecken und mit gefälschten Pässen Deutschland zu verlassen. Kurz vor Kriegende wurde er verhaftet und wegen seiner Homosexualität schwer misshandelt. Aber er überlebte. Mit 22 Jahren wurde er im Juni 1945 «Erster Vertreter jüdischer Interessen in Berlin». Gad Beck wurde durch die Rote Armee befreit.

Die Ausrottungspolitik des deutschen Faschismus hatte als Vorbedingung ein kapitalistisches Räderwerk, das Angriffs- und Vernichtungswaffen herstellte. Die Maschinen, Waffen und Vernichtungsöfen wurden hergestellt und produziert im Rahmen einer ökonomischen Modernisierung. Die ökonomische Rationalität des Arbeitsprozesses bedingte neue Arbeiter der Produktion. Ein bedingungsloses Hergeben der Arbeitskraft wurde sowohl propagiert als auch durchgesetzt. Ökonomische Rationalität und die Neuformung der Geschlechterverhältnisse gingen Hand in Hand. Der (männliche) Arbeiter war nicht mehr Teil der Arbeiterklasse, sondern Element einer hergestellten «Volksgemeinschaft» und später auch ausführend bei der Vernichtung. Der Mann musste sich dem Produktionsprozess unterordnen, maßhalten und leistungsfähig bleiben, den Alkoholkonsum mäßigen und fit bleiben. Frauen wurde ihre "natürliche" Rolle zugewiesen als aufopferungsvolle Gebärmaschine und Arbeiterin am Herd.
Die Geschlechterverhältnisse waren tragendes Element des deutschen Faschismus.

Mit dem deutschen Faschismus verstärkte sich die Verfolgung und Normierung der Sexualität. Allein in Berlin wurden viele hundert Kneipen und Ballsääle geschlossen, die von den Schwulen, Lesben und Transexuellen in der Weimarer Zeit so rege genutzt wurden. Die Schwulenverfolgung verschärfte sich nach dem sogenannten Röhmputsch. Homosexualität konnte in der nationalsozialistischen Politik keinen Platz haben. Doch die Verfolgung der Schwulen unterschied sich deutlich von der Verfolgung derjenigen, die durch die Nürnberger Rassegesetze betroffen waren. Schwule wurden zwar verhaftet, misshandelt und zu Tode geprügelt. Aber sie waren nicht per se zur Vernichtung vorgesehen. Wenn sie ihre Sexualität nicht praktizierten, konnten sie der Verfolgung entgehen. Schwule wurden nicht grundsätzlich deportiert. Schwule musste sich anpassen und ruhig halten. Trotzdem haben etwa 4000 Schwule die Konzentrationslager nicht überlebt. Ihr Schicksal ist bis heute weitgehend unbekannt, denn nach der Befreiung wurden Schwule wieder ins Gefängnis gesteckt, zu einem größeren Teil in der BRD und zu einem geringeren Teil in der DDR. Frauen mit gleichgeschlechtlichem Begehren wurden ebenfalls verfolgt, allerdings nicht als Lesben, sondern als sogenannte Asoziale. In den Konzentrationslagern starben darüber hinaus viele Schwule und Lesben, die nicht in den Statistiken auftauchen, weil sie zum Beispiel als Juden oder Kommunisten verfolgt wurden.
Die Schwulenverfolgung der Nazis war Element der Herstellung einer faschistischen Normalität der Sexualität.

Gesundheit, Schönheit, Leistungsfähigkeit, Fitness waren die Elemente einer «gesunden Normalität», die die faschistische Vernichtungspolitik bedingte. Normale Sexualität hieß, sich der herrschenden Sexualmoral unterzuordnen. Diese Normalität kannte nur die heterosexulle Kernfamilie. Der Mann war das dominierende Element. Er sollte sich früh eine Frau suchen und heiraten, seine Sexualität in den Dienst der Fortpflanzung und Rassereinhaltung stellen. Die sittliche Unterordnung war das Gebot der Geschlechterverhältnisse. Frauen waren darin degradiert zur sorgenden Mutter und Gebärmaschine neuer Soldaten. Sexuell abweichendes Verhalten wurde darin nicht geduldet. Die normale Sexualität hieß Maß halten, keine Ausschweifungen, Pflichterfüllung in der Fortpflanzung. Doch diese Unterordnung beruhte ebenso auf aktiver Mitwirkung an Vernichtungskrieg und Ausrottungspolitik. Unterwerfung unter die normale Sexualität hieß ebenso aktive Teilnahme an der Vernichtung.

Nun möchte ich noch auf ein düsteres Kapitel linker Politik kommen: Dem Bild des schwulen Nazis. Bereits 1933 wurde dieses Bild von der KPD bemüht, um die deutschen Faschisten im Ausland zu diskreditieren. Das berühmte antifaschistische Braunbuch spricht vom vermeintlichen Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lübbe als «Lustknaben der SA». Immer wieder wiesen später Linke auf die tatsächliche und vermutete Homosexualität einzelner Nazis hin, um damit ein Argument gegen den Faschismus zu haben. Selbst in der «Dialektik der Aufklärung» von Adorno/Horkheimer wird diese Bild bemüht. Dieses widerwärtige Berufen auf eine Normalität setzt genau an den sexuellen Politiken an, die die Faschisten selbst benutzten, um ihre Vernichtungspolitik zu etablieren. Selbst auf Antifa-Demonstrationen hört man heutzutage Sprüche wie «Scheiss schwule Nazis». Dies ist nicht nur ein falsches Argument, sondern bereitet eine reaktionäre Sexualmoral vor, auf die sich gerade die Nazis berufen.

Die Opfer des Faschismus, die aufgrund ihrer Sexualität verfolgt wurden, sind nie entschädigt worden. Im Gegenteil. 1945 wanderten abermals viele aufgrund des von den Nazis verschärften §175 ins Gefängnis. Entschädigt wurden sie nicht.

Wir fordern eine Entschädigung der NS-Opfer, die aufgrund ihrer Sexualität verfolgt wurden!
Wir fordern eine bedingungslose Entschädigung aller Opfer des deutschen Faschismus!



Demo 8.Mai 2005



die etuxx-Redaktion hatte im Vorfeld der Demo zum 8.Mai einen Aufruf verfasst,
den zahlreiche Initiativen, Projekte, Kneipen und Privatpersonen unterschrieben haben.

Für die Unterstützung danken wir Euch!




Demo 8.Mai 2005


MC: Ich wollte noch sagen, daß ich den Redebeitrag vor der Synagoge atemberaubend klasse fand. Wäre ich beim Spiegel, ich würde von einem thematischen Minenfeld schwadronieren, das mit einfühlsamer Eleganz gemeistert wurde. Statt desssen muss ich Abbitte leisten. Weil mir kurz zuvor beim Anblick der Lautibesatzung das dumme Wort vom Wichtigtuer durch den getrübten Kopf schoss. Ich bereue es! Als meine Mutter mich am Telefon fragte, ob wir das angezettelt hätten, was sie da im Fernsehn gesehen habe, hab ich nämlich auch ja gesagt. Und meine Mitbewohnerin hat alle Zeitungen mit den Lobeshymnen gekauft: besorgte Bürger retten Berlin!  
MC: Ahöm. Also, den Beitrag hier oben meinte ich definitiv nicht! Ich meinte den, den der Mann mit der schwarzen Schirmmütze 50 Meter vor der Synagoge gehalten hat. Den Phrasenfreien. Finde ich auch nicht so toll, Kommentare von Lesern zwischen Artikeln hin und her zu kopieren. Was soll das?  
brenda@MC: das war ich. asche über mein haupt. grund war, dass du wirklich eine minute, bevor ich die alte diskussion offline stellen wollte, quasi während ich gerade die eingabemaske entfernt habe, deinen beitrag gepostet hast. und damit dein beitrag nicht nach wenigen sekunden online bereits im archiv verschwindet, habe ich ihn hierhin gesetzt, da ich dachte, hier is sowieso der raum für eine art nachbereitung des ganzen.  
brenda: der redebeitrag von dem mann mit der schirmmütze vor der synagoge fand ich auch großartig.  
Der Mann mit der Schirmmütze: hat den Redebeitrag garnicht selber geschrieben (der kam von den Demoanmeldern mit der Bitte, ihn zu verlesen) und hat ihn nach kurzer Prüfung für gut befunden - sah man mal von den in jedem Satz vorkommenden Wort "Faschismus" ab, das einem echt zur Qual beim Reden wird. Einen Absatz hätte ich allerdings am liebsten weggelassen. Da gings um die Alibifunktion des Themas Holocaust in Talkshows.  
...: Das sehe ich nicht so. Zufällig habe ich am Abend des 8. Mai mal nicht bei Sabine Christiansen wegezappt, sondern habe mir den Streit zwischen dem Herrenreitergutmenschen Weizäcker und dem Ghettoüberlebenden Reich-Ranicki angehört. Das war soetwas von entlarvend über die Zustände hierzulande 60 Jahre nach der Befreiung. Besser als sämtliche Demoreden es jemals könnten.  
...: Und noch was. Ich finde im großen Demotransparent-Contest gehen douze points an Gloria Viagras "Nationalstolz - gibt's da was von rationpharm?"  
brenda: ach - das war von gloria?  
Deniz: Dass die Nazis am 8. Mai verloren haben, ist nichts Neues. Die Frage ist nur: Wer hat diesmal gewonnen? War die Verhinderung des Aufmarschs tatsächlich ein Erfolg der radikalen Linken? Oder ist der Tagessieger nicht die deutsche Zivilgesellschaft, die Berliner Republik, kurz: Deutschland, das sein nationales Symbol zu schützen vermochte? Die radikale Linke hat ausgerechnet an diesem Tag zu einem deutschen Sieg beigetragen, und zwar unabhängig davon, was die Leute dabei gedacht oder in ihre Aufrufe geschrieben haben.  
tja: das nennt man wohl dialektik... ich glaube nicht, dass man sich deshalb große sorgen machen muss.  
michael hellmann: @deniz: der imperialistische Staat heftet sich zwar den Erfolg der Demo an seine Fahnen, doch wir müssen ja nicht jede Lüge glauben. Dem Vernehmen nach hat die Polizei 58 AntifaschistInnen am 8. Mai verhaftet(indymedia, JW). Während AntifaschistInnen die Demo weitmöglich blockierten, feierten die verschiedenen politischen Abteilungen des deutschen Imperialismus ihren Tag der Demokratie am Brabu Tor, um laut Thierse zu zeigen, wer in diesem Land das Sagen hat. Die AntifaschistInnen müssen den taktischen Erfolg des 8. Mai verteidigen, und gleichzeitig die strategische Komplizenschaft von Nazis und Staat bekannter machen, um so die staatliche Heuchelei zu aufzudecken.  
Hahn und Henne: "heftet sich zwar den Erfolg der Demo an seine Fahnen" Herr Hellmann es gab am 8.Mai noch mehr als "Ihre" Demo, leider Sie an Hybris?  
michael hellmann: Lieber Herr Hahn, liebe Frau Henne: Ich habe etwas salopp die Gesamtheit der AntifaschistInnen, welche die Nazis am 8. Mai für Stunden umzingelte, als die Demo bezeichnet. Es war eine Aktionseinheit der Tat verschiedenster antifaschistischer Kräfte, die wesentlich durch die Spasibo-Aktionseinheit mobilisiert worden waren. Die verschiedenen politischen Abteilungen des deutschen Imperialismus (CDU,SPD, etc.) haben zu dieser Mobilisierung nichts beigetragen. Thierse hat ausdrücklich erklärt, daß der Tag der Demokratie nicht dazu diene, die NPD aufzuhalten. So ist's und so bleibt's. P.S.: Wo, bitte, habe ich von "meiner" Demo geschrieben? Ich kenne da einen guten Augenarzt...  
Korrekteuse: Die Verhinderung der Nazidemo war ein "Erfolg", der von oben gewollt war. Wowereit hat ausdrücklich die Gegendemo begrüsst, und Frau Künast hat vom Brandenburger Tor aus zu einem Spaziergang Unter den Linden aufgerufen. Die Bullerei hat die Faschos taktisch aufgehalten und sich bei AntifaschistInnen für den friedlichen Protest bedankt. Derlei taugt natürlich nicht zur linkssektiererischen Mythenbildung à la Hellmann.  
Peter: Hellmänner und -frauen dürfen sich ihre Orden ‚Nur wir waren toll’ an die Brust heften. Ich als Demoteilnehmer betrachte mich als Teil eines "sehr" großen Ganzen, bei dem mir ehrlich sogar sehr lieb ist, wenn ein Herr Wowereit und ein eine Frau Künast auch ihren Beitrag geleistet haben. Und an Herrn Hellmann! Ja, die politischen Abteilungen, um in Ihrem Jagon zu bleiben, des deutschen Imperialismus (CDU,SPD,Grüne,PDS) haben zu dieser Mobilisierung nicht beigetragen, sie aber sie dennoch gutgeheißen - auch wenn Sie das nicht hören wollen.  Berlin ist nicht Leipzig!
michael hellmann: @korrekteuse: Ich gebe Dir insofern Recht, daß dieses Mal es nicht im staatlichen Interesse lag, den Nazis den Weg freizuknüppeln, weil am 60. Jahrestages des Sieges über den deutschen Faschismus das internationale Interesse sehr groß war. Trotzdem halte ich die Spasibo-Mobilisierung für einen Erfolg (siehe oben). @Peter: und die Verhaftungen? und Thierses klare Ansagen? @ Peter 2: willst Du im Kampf gegen die Nazis Dich strategisch auf den deutschen Staat schützen, oder geht es Dir hier nur um die taktische Einschätzung dieser einen Demo?  
mh: mh@Peter: statt schützen lies: stützen.  
MC: Wie verhätschelt, wie gepudert, wie grundversorgt und rundum abgesichert muss man eigentlich sein, um in Wolfgang Thierse eine grössere Gefahr zu sehen als in Martin Wiese?