HIV und AIDS in der Ukraine


Im November 2002 unternahmen Susann Kowol (Text) und der Dirk Plamböck (Foto) eine Recherchereise zum Thema HIV und AIDS in die Ukraine. Ein Situationsbericht.

Bis zum September 2003 registrierten die ukrainischen Gesundheitsbehörden mehr als 92000 HIV-Infektionen. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen und übereinstimmender Expertenmeinungen liegt die tatsächliche Infektionszahl um ein Vielfaches höher, wobei von ca. 500.000 HIV-infizierten Menschen in der Ukraine ausgegangen wird. Somit verzeichnet das Land mit seinen 50 Mio. Einwohnern europaweit den höchsten Anteil an HIV-Infektionen in der Bevölkerung (Prävalenz, also Anteil der Infizierten an der Gesamtbevölkerung: 0,01 - im Vergleich BRD: 0,0005).

Nach dem ersten registrierten Fall im Jahr 1987 expandierte die Zahl der Neu-Infektionen in der Mitte der 90er Jahre mit dem Übergriff auf die Drogenszene um das 15-fache. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat die desolate Wirtschaftslage eine Atmosphäre von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit erzeugt und den Heroinhandel vor allem um die Hafenstadt Odessa florieren lassen. Anfangs beschränkte sich die Epidemie auf injizierende Drogenkonsumenten. Mittlerweile ist durch zunehmende Prostitution, defizitäre Aufklärung und mangelhafte staatliche Initiative ein Übergreifen der Infektion auf die Allgemeinbevölkerung erfolgt.

Bisher ließ die Versorgungslage in der Ukraine eine antiretrovirale Behandlung von lediglich 50 - 100 Patienten zu. Die Zahl derer, die dringend einer Therapie bedürfen, liegt bei mindestens 5000.

Der 2001 von Kofi Annan initiierte Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose verschob wiederholt die Zahlung der angekündigten ersten Rate von 95 Mio. US$ an die ukrainische Regierung, da die Voraussetzungen hierfür lange nicht geschaffen wurden. Hierzu zählten die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums zur Verteilung der Gelder und die Entwicklung von Programmen und Strukturen zur Behandlung der bereits Infizierten und zur Eindämmung der Epidemie.

Der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose

Der Globale Fond stellt eine gemeinsame Maßnahme von Regierungen, NGOs und privaten Geldgebern dar, wobei die bisherigen Aufwendungen von 1,5 Mrd. US$ und die geplante Steigerung auf 3 Mrd. US$ zu je einem Drittel den USA, der Europäischen Gemeinschaft und der Privatwirtschaft, bzw. weiteren Staaten zufallen.

Entgegen ihrer Zusagen auf weitreichende Unterstützung tragen Deutschland und Frankreich zusammen weniger als 75 Millionen Euro pro Jahr zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria bei. Dieser Beitrag entspricht 0,005% ihres Bruttosozialproduktes. Deutschland gab ein Zahlungsversprechen von insgesamt 300 Mio. EUR, wovon bisher jährlich die Zahlung 38 Mio. EUR erfolgte und die weitere Finanzierung des Fonds auf das Jahr 2005 verschoben wurde. Die kontinuierliche Finanzierung des Globalen Fonds und die Verteilung der Ressourcen in den Empfängerländern sind noch nicht verbindlich geklärt. Dennoch ist der Globale Fonds das bisher sinnvollste internationale Instrument, die zumindest finanziellen Voraussetzungen für die Umsetzung von HIV- und AIDSprogrammen in den betroffenen Ländern zu schaffen.

Der Zugang zu Medikamenten und das TRIPS-Abkommen

Eines der größten Probleme für Hochprävalenzländer wie die Ukraine ist der Zugang zu bezahlbaren antiretroviralen Medikamenten. Durch das Fehlen eines internationalen Preissystems ist die Preispolitik nahezu uneingeschränkt den Pharmafirmen überlassen. Die Weltmarktpreise für die antiretrovirale Therapie (ART) liegen bei 10 000 US$ pro Patient und Jahr, von denen die Hochpreispolitik der Hersteller selten abweicht. Das Medikament Nelfinavir von Roche wurde bis vor ein paar Monaten mit 6000 US$ in der Schweiz sogar billiger als in Guatemala oder der Ukraine (bis 8000 US$ pro Patient und Jahr) vertrieben.

Das wirksamstes Mittel zur Senkung der ART-Preise stellt bisher die Konkurrenz durch Nachahmerprodukte, so genannte Generika, dar. Generikahersteller aus Indien oder Brasilien bieten die ART für ca. 200 - 350 US$ pro Patient und Jahr an. Immerhin bewirkten die Herstellung der Generika und internationaler Druck auf die pharmazeutische Industrie die Senkung ihrer Medikamentenpreise um zum Teil 90% in zumindest einigen, z.B. afrikanischen Ländern.

Dennoch, der ausreichenden Verfügbarkeit von Medikamenten stehen die Patentregelungen des TRIPS-Abkommens der WTO von 1994 im Wege (TRIPS = Trade Related Intellectual Property Rights). Dieses Abkommen gewährt den Herstellern der Originalprodukte Patentschutz für 20 Jahre und hält die Preise zur Absicherung gegen Generika künstlich hoch. 38 multinationale Pharmafirmen klagten gegen die südafrikanische Regierung aufgrund eines von ihr erlassenen Gesetzes, welches die Generikaproduktion im eigenen Land zuließ. Die Klagezurückziehung erfolgte 2001. Angesichts der verheerenden Entwicklungen der Epidemie mit zum Teil zwei Drittel infizierter Erwachsener in afrikanischen Regionen und dementsprechender volkswirtschaftlicher Auswirkungen wurden dem TRIPS-Abkommen 2001 interpretationsfähige Sicherheitsmechanismen (Safeguards) hinzugefügt:

Die Regierungen betroffener Länder können einen Public Health Notfall ausrufen und Zwangslizenzen an Generikahersteller vor Ort vergeben, was in den meisten Fällen bedeutete, daß Staaten, die über keine eigene Produktion verfügen, weiterhin keinen Zugang zu ART haben würden. Ohnehin hat sich das Instrument der Zwangslizensierung aufgrund politischer Einflussnahme reicher Länder und multinationaler Pharmafirmen wenig etabliert. Hinzu kommen bürokratische Hürden, die eine schnelle Lösung für die betroffenen Länder torpedieren. Innerhalb industrialisierter Staaten lässt sich eine wesentlich wohlwollendere Interpretation der Safeguards unterstellen: USA und Kanada drohten mit Anwendung der Sicherheitsmechanismen gegen den Patentschutz von Bayer zur Herstellung eines Medikaments gegen die Anthrax-Infektion, mit der Folge, daß Bayer dieses Medikament verbilligte.

Die Sicherheitsmechanismen des TRIPS-Abkommens gestatten bisher keinen Import von Nachahmerprodukten. Die Möglichkeit der Zwangslizenzvergabe gilt nur bis 2005. Die importierenden und exportierenden Länder müssen ab 2005 voll mit dem TRIPS-Abkommen übereinstimmen.

Die Versorgungslage in der Ukraine

etuxx Pjotr vom Netzwerk Odessa    Der schnelle Zugang zu ART für die Ukraine unterliegt zudem der Schwerfälligkeit der ukrainischen Regierung hinsichtlich der Verhandlungen mit patenthaltenden Pharmafirmen und der Registrierungsverfahren für Generika aus Indien. Wie viele andere hegen die ukrainische Regierung und dortige Ärzte ohnehin unbegründete Vorbehalte bezüglich der Qualität gegen diese Medikamente. Außerdem befänden sich Generika bisher nicht "auf der Liste regierungsamtlicher Anschaffungen". Nach der Senkung der Medikamentenpreise auf bisher 60 - 80% durch bilaterale Abkommen und der Zahlung der ersten Globalen-Fonds-Rate sprach die ukrainische Regierung zu Beginn dieses Jahres offiziell von 4000 Personen, die bis Ende 2003 unter antiretroviraler Therapie stehen sollten. Tatsächlich werden weiterhin weniger als 100 Patienten mit ART versorgt.

Die bisherige Unterstützung, Beratung und Betreuung HIV-Positiver wird maßgeblich von nichtstaatlichen Selbsthilfeorganisationen übernommen. Ermöglicht wird deren Arbeit nahezu ausschließlich durch Spenden von Privatleuten, ausländischen Organisationen und der Pharma-Industrie. Wir begleiteten während unserer Recherchereise den Verein "connect plus" bei seiner Arbeit in Kiew und Odessa. Der Augsburger Verein, bestehend aus Experten der deutschen AIDS-Hilfen, unterstützt und berät dortige Initiativen. Basierend auf der 20-jährigen Erfahrung westlicher Organisationen leistet der Verein Know-How-Transfer und direkte Beratungs- und Vernetzungsarbeit vor Ort, da Ressourcen nicht nur finanzieller Art, sondern in Form von Erfahrung aufgebracht werden müssen.


Durch die Initiative des einzigen sich als HIV-positiv und homosexuell geouteten Aktivisten in Odessa entstand die erste Anlaufstelle für infizierte Schwule, zunächst in Form eines Online-Forums und -Beratungszentrums. Vor drei Jahren bildete sich in der Ukraine ein landesweites Selbsthilfe-Netzwerk für HIV-Infizierte und AIDS-Erkrankte mit Einrichtungen in 14 ukrainischen Städten. Die dazugehörige Odessaer Initiative "Live Plus" betreibt das bisher einzige häusliche Krankenpflegeprojekt für 50 Patienten in der gesamten Ukraine. Ein staatliches Pendant gibt es nicht. Zudem besuchen die Mitarbeiter regelmässig die nicht behandelbaren Patienten des am Rande Odessas gelegenen Hospizes, einem früheren Isolationszentrum für Syphilis- und Leprakranke, welches man sich bei weitem nicht als ein Hospiz im herkömmlichen Sinne vorstellen darf. Es gibt weder Schmerz- noch sonst irgendwelche Medikamente. Das Essen fällt einem schwer es als solches zu bezeichnen.

Allesamt, Aktivisten und Infizierte, sprachen von sich immer wieder vom "Abfall der Gesellschaft" als der sie sich behandelt fühlen. Es interessiere sich niemand für sie. Seit sich internationale Initiativen überwiegend finanziell für die AIDS-Bekämpfung einsetzen, gründen sich zwar viele Organisationen, die das monetäre Potential der "AIDS-Arbeit" entdecken und ausnutzen - viele allerdings, ohne jemals wirkliche Betreuung oder Prävention zu leisten. Es offenbare sich in der Ukraine eine vampireske "Selbstbedienungsmentalität", hieß es. In der Tat veranschaulicht der dortige Umgang mit den Betroffenen den Wert, der einem einzelnen Menschen beigemessen wird. Eine amerikanische NGO beispielsweise spendete den Patienten des oben erwähnten Odessaer Hospizes diverse Geräte, wie einen Kühlschrank, Videorekorder oder DVD-Player, die innerhalb kürzester Zeit auf Geheiß des Chefarztes aus den Zimmern entfernt wurden und über deren Verbleib man nur treffsicher spekulieren kann.

Die korrupten, oligarchen Strukturen haben die sowjetische Ära überlebt und sabotieren jeglichen Ausbau einer Logistik, auf die unterstützende nationale und internationale Organisationen zugreifen können. Da HIV/AIDS wie kaum eine andere Krankheit Verschiebungen im sozialen Gefüge einer Gesellschaft hervorruft und nicht allein auf den medizinischen Aspekt reduziert werden darf, ist eine Auseinandersetzung mit dem Problem nur mit interdisziplinären Ansätzen möglich. Dazu gehören der Auf- und Ausbau staatlicher Stellen zur Prävention, zur epidemiologischen Erfassung der jetzigen Situation, Schaffung einer Infrastruktur zur Behandlung Infizierter und ein massives Umdenken auf allen Seiten.