Dein Dorf ist überall...
... und du entgehst ihm nicht.

Von Sascha Berlinskij.

1987...

hatte ich mein Coming-Out. In einer Stadt mit über 200.000 Einwohnern, die dadurch für mich zu einem Dorf wurde wie das, in dem ich meine Jugend verbrachte. Dabei war ich in diese Stadt gezogen, um der Enge des Dörflichen zu entfliehen. De facto aber wechselte ich aus einem Dorf mit 3000 in ein Dorf mit 30 Einwohnern.

Ich hatte beschlossen, nicht länger nur homosexuell zu sein, sondern schwul zu leben. Das Dorf aus dem ich kam, unterschied sich vor allem in einem nicht von dem Dorf, in das ich - freiwillig und den Kopf voller Ideale und den Bauch voller Geilheit - ging: in der Tyrannei der dort herrschenden Intimität.


Und das neue Dorf hielt sogar weit weniger Abwechslungen und Zerstreuungen für mich bereit als das alte. Die Enge der Provinz erschien mir im Nachhinein weniger bedrückend als die Enge eines winzigen selbstgewählten schwulen Ghettos, von dem ich mir doch eigentlich Befreiung versprochen hatte.

Natürlich ist die schwule Infrastruktur auch in dieser Stadt inzwischen expandiert. Aber damals gab es nur: eine einzige schwule Kneipe und einen einzigen Verein, in dem jeder Mitglied war, der den Schritt vom Feierabendhomosexuellen zum 365-7-24-Schwulen gewagt hatte. Wer sich dieser Gemeinschaft verweigerte, der musste ein einsames Leben führen.


Das wollte ich nicht. Also zwang ich mich, Zarah Leander gut zu finden und "tuntiges Sprechen" wenn schon nicht zu adaptieren, so doch zu ertragen. Und hatte Sex mit Männern, deren Geschmack und deren Selbstinszenierung mich abstiess. Es war ein besinnungsloser Inzest unter Schwulen, von denen kaum einer wusste oder zugab, wer er war, was ihn wirklich interessierte und bewegte, wo er stand.

Und ich fand dort eine Liebe. Es war keiner von den 30 Dorfbewohnern - natürlich nicht. Der Umgang mit mir wurde ihm von seinem Vater verboten. Er hielt sich daran. Alle Dramen inclusive, auch den kitschigen Satz, unter Tränen geäussert: "Wir dürfen uns nicht mehr sehen!". Danach zog ich in eine andere Stadt; mit mehr als zehnmal sovielen Einwohnern.


2002...

Seit 12 Jahren wohne ich in einer sog. Metropole, mit genügend Homosexuellen zusammen, um eine eigene schwul-lesbische Grossstadt zu gründen. Theoretisch und praktisch - eine Horrorvorstellung. Aber kaum dass ich hergekommen war, fand ich eine grosse Liebe und hatte eine wundervolle Beziehung.

Aber damit war ich noch nicht "angekommen" in der grossen Stadt. "Angekommen" war ich erst, als ich "mein Dorf" wiedergefunden hatte. Worüber die Beziehung in die Brüche ging. Ich wurde Minderheit in einer Minderheit. Und ich war zum ersten Mal ganz und gar damit einverstanden.

Denjenigen, die behaupten, auch diese sog. Metropole sei doch eigentlich ein Dorf, möchte ich entgegenhalten, dass nicht sie es ist, sondern dass wir es sind, die das Dorf ausmachen. Der Gedanke, in "mein" ursprüngliches Dorf zurückzukehren, liegt mir heute nicht mehr fern.