Gender und Genom
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Der Bio-Backlash und abweichende Sexualitäten
von Adele Allele (aus Tuntentinte N°22 trendy patriachat)
Das Patriarchat hat sich in den letzten Jahrzehnten modernisiert. Ein Ergebnis dieser Modernisierung ist leider, dass es für manche heute schwerer zu sehen ist als früher.
Ich will in meinem Text nur auf einen Baustein der Modernisierung des Patriarchats eingehen, auf den neuen Biologismus. Damit meine ich den heute wieder wachsenden Hang, reale und vermeintliche Unterschiede in Geschlecht und Sexualität auf biologische Weise zu erklären, der sich in den Naturwissenschaften, in Ratgeberbüchern und den Tageszeitungen findet. Zum Schluss habe ich einige Gedanken darüber aufgeschrieben, wie eine radikale Kritik an Biologismus aussehen kann, wenn sie solidarisch mit den Kämpfen von Intersexuellen, Transsexuellen und AIDS-Aktivistlnnen ist.
Die Aktualität des Biologismus
Biologismus hat eine lange Geschichte. Schon im 19. Jahrhundert waren die Humanwissenschaften, d.h. Wissenschaften, die sich mit "dem Menschen" befassen (Biologie, Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, Pädagogik ...), sehr gut darin, Unterschiede zwischen Menschengruppen - zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Homosexuellen und Normalen, zwischen den Klassen - auf biologische Ursachen zurückzuführen. Dadurch wurden einige solcher Unterschiede den betreffenden Menschen überhaupt erst eingeredet (beispielsweise haben viele Schwule geglaubt, dass ihre übermächtige Mutter für ihre abweichende sexuelle Orientierung verantwortlich zu machen sei). Andere Unterschiede (z.B. in der Bildung oder Kriminalitätsrate) wurden so naturalisiert, d.h. ihre gesellschaftlichen Ursachen (z.B. die unterschiedlichen Zugangschancen zu Wissen und anderen Ressourcen) wurden verschleiert, indem biologische Ursachen behauptet wurden (z.B. Schädelformen, Gehirngrößen und - auch heute sehr beliebt - Erbanlagen: das Genom). Diesen Vorgang sollte mensch sich keineswegs wie eine Verschwörung vorstellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Beteiligten die entsprechenden Ansichten derart verinnerlicht hatten, dass sie sie gar nicht im Interesse einer "objektiv" zu betreibenden Wissenschaft ausblenden konnten. Die Blindheit gegenüber der realen Situation von Schwarzen, Homosexuellen, ProletarierInnen und Frauen wurde ihnen durch ihren gesellschaftlichen Standpunkt als weiße heterosexuelle bürgerliche Männer vorgegeben.
Die Funktion des Biologismus
Biologismus macht Gesellschaftliches unsichtbar, indem er es naturalisiert. Eine solche Unsichtbarkeit des Gesellschaftlichen ist eine Stütze aller Unterdrückungsformen, von Sexismus, Rassismus und Klassismus usw., und zwar auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft: den Institutionen des Staates, dem öffentlichen Diskurs und der Psychologie der einzelnen Menschen.
Es ist durchaus im Interesse der Einzelnen, gesellschaftliche Verhältnisse durch Biologismus unsichtbar zu machen, denn es nimmt ihnen Verantwortung für ihr Verhalten und ihre Eigenschaften ab. Das gilt für Menschen auf der Gewinnerseite der verschiedenen Unterdrückungsformen, die so eine Rechtfertigung für ihr individuelles Fehlverhalten bekommen. Zum Beispiel: "Die (sexuelle) Aggression muss eben raus aus dem Mann, das liegt daran, dass Männer mehr von dem Hormon Testosteron in ihrem Körper haben."
Aber auch die Unterdrückten selbst können ein Interesse an der Verschleierung der Verhältnisse haben, unter denen sie zu leiden haben. Es tut weh, sich der eigenen Lage, der eigenen Ohnmacht bewusst zu werden. Frauen erklären in Abgrenzung von "Emanzen", Schwule in Abgrenzung von altmodischen Bewegungs-schwestern usw., dass doch alles in Ordnung sei.
Vielleicht noch größer kann der Schmerz (bzw. das Schuldgefühl) sein, den das Eingeständnis hervorruft, dass wichtige Aspekte der eigenen Persönlichkeit Teile in einem gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismus sind, sei es beispielsweise ein dominantes Redeverhalten bei Männern oder der Zwang, "gut zuhören zu können", bei Frauen.
Anachronistisches und Aktuelles
Biologistische Ansichten zeigen sich nur dann in ihrer ganzen Absurdität, wenn sie schon alt sind. Der Ausdruck Hysterie beispielsweise entstammt der Theorie, dass diese angebliche Frauenkrankheit daher rühre, dass sich die Gebärmutter (griechisch: hystera) nach oben stülpe und das Gehirn erhitze (19. Jahrhundert). Die Ideen, derer sich der aktuelle Biologismus bedient, sind (noch) nicht diskreditiert. Er ist schwerer zu entlarven, denn wer kennt sich schon genug mit Enzymen, Hormonen und Eiweißen aus, um die neuesten wissenschaftliche Studien anzweifeln zu können? Aber es ist zumindest zu hoffen, dass in einigen Jahrzehnten offensichtlich wird, wie unsinnig es beispielsweise ist, aus Tests mit Meerschweinchen und Präriewühlmäusen abzuleiten, dass die emotionale Bindung zwischen zwei Menschen auf Ausschüttungen eines Treuehormons beruht.
Die Bedeutung von Populärwissenschaft
Ich glaube, dass die Wirkung von kleinen Berichten über neue biologische oder psychologische Studien in den Tageszeitungen und von Ratgeberbüchern darüber, warum Männer besser dies und Frauen besser das können, nicht zu unterschätzen sind. Daraus basteln sich die Leute ihre Weltbilder, die dann ihre Handlungen beeinflussen. Neulich freute sich eine Freundin von mir über ein solches Buch (es ging unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Jagd der Ur-Männer und der Aggressivität heutiger Männer): "endlich erklärt das mal jemand".
Biotechnologismus
Biologie und insbesondere Genetik und Gentechnik sind im Moment der Inbegriff des Fortschritts. Das zeigen die öffentlichen Debatten darüber, wie viel die Biotechnologien forschen dürfen (Stammzellen, Klonbabys usw.), die Begeisterung über die sogenannte Entschlüsselung des menschlichen Genoms, und den Wettlauf der Konzerne, sich genetische Informationen über Pflanzen, Tiere und Menschen patentieren zu lassen. Selbst die Fernsehserie Star Trek, wie alle herkömmliche Science Fiction ein guter Indikator für gesellschaftliche Stimmungen, hält auf Biologie basierende Technologien - im Gegensatz zu Energie- und Informationstechnologie - seit den 90ern für die Mächtigsten. Dieser Biotechnologismus führt (ganz unabhängig von den tatsächlichen Leistungen der Biotechnologie) dazu, dass Erklärungen, die auf biologische Studien zurückgreifen, aufgewertet werden.
Biopolitik
Biopolitik ist ein Begriff, der auf Texte von Michel Foucault aus den 70er Jahren zurückgeht. Er bezeichnet die Entwicklung, dass die modernen Staaten immer mehr auf das Leben der sie bevölkernden Menschen zugreifen (anstelle sie nur mit dem Tod zu bedrohen). Der Staat entdeckt "die Bevölkerung" als etwas, das er steuern, pflegen und formen kann; er will die Geburtenzahlen, aber auch die Gesundheit und die Fähigkeiten "seiner" Bevölkerung regulieren.
Biopolitik ist in den letzten Jahren zu einem Begriff für Veränderungen in der Funktionsweise des Kapitalismus geworden im Umfeld von "Empire" von Michael Hardt und Toni Negri). Damit schafft das Interesse für Biopolitik eineMöglichkeit der Verbindung zwischen der sich hauptsächlich für den Kapitalismus interessierenden Linken und dem Feminismus, denn der beschäftigt sich schon seit einiger Zeit mit Bevölkerungspolitik.
Biopolitik ist eine Erweiterung des Bereichs, der zwischen Macht und Widerstand umkämpft ist, auf das Leben selbst - was immer das genau heißen mag, das Spektrum reicht von Eiweißmolekülen bis zu Erlebnissen. Aber es ist klar, dass die Macht (die staatliche Herrschaft, aber auch das Patriarchat) das Leben in der Sprache der Biologie beschreibt. Daraus ergibt sich, dass der Biologismus eine wichtige Rolle für die herrschende Biopolitik spielt. Welche Bedeutung diese Verbindung haben kann, zeigt die biologistisch fundierte Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus, die im industriellen Massenmord gipfelte.
Bio-Backlash
Der Begriff Backlash bezeichnet den patriarchalen Rückschlag in den letzten 20 Jahren des letzten Jahrhunderts, der gegen die Errungenschaften und Forderungen des Feminismus der 70er gerichtet ist. Die These vom patriarchalen Backlash ist sozusagen ein klares und erzürntes "Nein!" auf die Frage nach dem Ende des Patriarchats. (Der Begriff stammt von der Feministin Susan Faludi.)
Auch in dem Erstarken biologistischer Erklärungen sehe ich einen
Rückschlag. Die Debatte darüber, ob die Natur oder die gesellschaftliche Umwelt den größeren Einfluss auf die Entwicklung der einzelnen Menschen hat, war in den 70ern zumindest unentschieden, heute entwickelt sie sich bedenklich weit in Richtung Natur (und damit nach rechts). Dieser Bio-Backlash bekommt einen Teil seines Schwungs aus dem aktuellen Biotechnologismus, er steht aber auch in dem größeren Zusammenhang biopolitischer Entwicklungen, die noch einiges erwarten lassen.
Das schwule Gen
Biologische Forschungen über männliche Homosexualität
Für weibliche Homosexualität scheint sich die Naturwissenschaft kaum zu interessieren, aber zu männlicher Homosexualität gibt es Forschungen aus den verschiedenen Gebieten der Biologie. Daraus ließe sich eine vollständige Reihe aufstellen: Die Evolution hat unser Genom hervorgebracht, die Gene bestimmen die Struktur des Gehirns bzw. die Hormone, und die Struktur des Gehirns bzw. die Hormone bestimmen unsere sexuelle Orientierung.
Angesichts von Homosexualität versagt das übliche Schema der Evolutionsbiologie. Wer ausschließlich schwul lebt, pflanzt sich nicht fort und kann somit seine (schwulen) Gene nicht an folgende Generationen weitergeben. Daher müssen die evolutionstheoretischen Spekulationen über die Ursache der Homosexualität um die Ecke denken: Gerade der Verzicht der Homosexuellen auf Fortpflanzung erhöhe die Chancen ihrer nahen Verwandten auf Fortpflanzung und mache so auch die Weitergabe ihrer Gene wahrscheinlicher (so der Soziobiologe Richard Dawkins 1976).
Zwillingsforschung liefert einen indirekten Zugang zu den Genen. Statistiken zeigen, dass eineiige Zwillinge häufiger die sexuelle Orientierung teilen als zweieiige Zwillinge. Das legt nahe, dass die sexuelle Orientierung von den Erbanlagen mit beeinflusst wird. Einen direkteren Zugang zu den Genen versuchte Dean Hamer seit 1993. Er hat einen Abschnitt aus dem menschlichen Genom isoliert (und zwar Xq28), von dem er behauptet, dass er bei Schwulen anders als bei allen anderen Männern aussieht.
Simon LeVay hat (ebenfalls in den 90ern) in den Gehirnen toter Schwuler einen Bereich gefunden, der kleiner ist als bei anderen Männer - wie es auch bei Frauen der Fall sei. Damit ist für ihn auch klar, warum Schwule und Frauen das "gleiche" Begehren haben.
Um die Hormone schließlich hat sich Günter Dörner von der Charité Berlin gekümmert. Ein falscher Hormonspiegel während der Schwangerschaft könne zu Missbildungen, unter anderem "zu bleibenden Störungen des Paarungs- bzw. Nichtpaarungsverhaltens" führen. Dörner traut sich auch zu, Homosexualität während der Schwangerschaft diagnostizieren und durch Hormonpräparate verhindern zu können. Er hat für seine Forschungen im letzten Jahr das große Bundesverdienstkreuz erhalten.
Wissenschaftliche Kritik
Auch aus der Sicht der Naturwissenschaft selbst müssen diese kleinen
Überlegungen und Studien über die Ursachen der Homosexualität recht vorläufig und unzusammenhängend erscheinen. Es ist klar, dass die evolutionstheoretische Erklärung höchstens Spekulation ist; und beispielsweise Hamers Annahme eines schwulen Gens und Dörners Hormontheorie passen nicht recht zusammen (sonst müssten sowohl die Gene des Embryos als auch die Hormone der Mutter ausschlaggebend sein). Die Prozentzahlen der Zwillingsforschung ließen sich - darauf weist das Council for Responsible Genetics hin - auch rein gesellschaftlich erklären: Weil sie Zwillinge sind, werden sie von den meisten als dieselben behandelt. Ein weiteres Problem der Zwillingsforschung, aber auch von Hamers Studien über das schwule Gen, ist die zugrunde gelegte Definition von männlicher Homosexualität, die sich in der Auswahl ihrer Forschungsobjekte zeigt. Hamerz.B. will sich nur mit "richtigen" Schwulen befassen (die nie eine heterosexuelle Regung hatten). Er geht davon aus, dass nur 2% der us-amerikanischen Männer schwul sind - würde er auch von den normalerweise angenommenen 5 bis 10% ausgehen, verlören seine Ergebnisse ihre statistische Aussagekraft. Schlimmer noch ist, dass er so die ganze (interessante) Grauzone zwischen Homo- und Heterosexualität ausklammert, beispielsweise Männer, die sexuelle oder romantische Beziehungen mit anderen Männern haben, sich aber nicht als schwul identifizieren. Eine auch aus wissenschaftlicher Sicht schlimmere Verfehlung leistete sich LeVay. Alle Leichen, in deren Hirnen er einen für Schwule typischen Bereich gefunden haben will, waren an den Folgen von AIDS verstorben. Von AIDS ist aber bekannt, dass es die Hirnstruktur verändern kann.
Insgesamt betrachtet ist erstaunlich, dass alle bisherigen Untersuchungen sich von gesellschaftlichen Vorannahmen leiten lassen. Ein Einfluss eines einzelnen Gens auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Auch wer den Humanwissenschaften das Recht und die zumindest prinzipielle Fähigkeit zu Forschungen über Homosexualität zugesteht, muss anerkennen, dass deren Ursachen so kompliziert sein müssen, dass sie nicht von einer biologischen Einzeldisziplin allein erklärt werden können.
Politische Kritik
Die Geschichte der Humanwissenschaften mit ihren aus heutiger Sicht offensichtlich rassistischen, sexistischen, heterosexistischen usw. Theorien rechtfertigt eine radikale Skepsis gegenüber ihren aktuellen Untersuchungen über Ethnien ("genetisch homogene Populationen"), Geschlecht und sexuelle Orientierung.
Wichtig ist aber auch, wie der öffentliche Diskurs die Ergebnisse der Wissenschaft vereinfacht und verwandelt. Z.B. hat Hamer selbst darauf hingewiesen, dass seine Forschungen keineswegs einen einfachen Zusammenhang zwischen einem einzelnen Gen und der sexuellen Orientierung zeigen können. Seine Studien sind trotzdem von einem Großteil der Öffentlichkeit als Beweis für das schwule Gen aufgefasst worden. Interessanterweise sind es in der us-amerikanischen Diskussion gerade auch schwule Bürgerrechtler, die sich positiv auf die These vom schwulen Gen beziehen (dafür gibt es auch in Deutschland Beispiele).
Die Gefahr eines positiven Bezugs von Schwulen auf ihre schwulen Gene
Die Erklärung hierfür liegt in den Anti-Homosexualitäts-Kampagnen der US-Rechten, die allesamt betonen, Homosexualität sei eine Wahl. Deshalb können sich alle verantwortlichen Menschen auch einfach dagegen entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist die Erwiderung einiger Schwuler, dass sie so geboren sind und daher nicht anders können, verständlich.
Auch aus anderen Gründen kann es für Schwule verführerisch sein, die These vom schwulen Gen zu glauben. Das Council for Responsible Genetics führt die Besänftigung von Schuldgefühlen an, die auf internalisierter Homophobie beruhen. Außerdem passt diese These (zumindest vordergründig) zu der verbreiteten schwulen Selbstwahrnehmung, nach der die eigene sexuelle Orientierung nicht auf einer Entscheidung beruht sondern schon in der Jugend entdeckt wird, dass sie sozusagen wie angeboren ist.
Die Gefahren sind allerdings groß, wenn sich Schwule selbst auf die Biologie berufen. Wer der antihomosexuellen Rechten entgegenhält, er habe keine Wahl, akzeptiert automatisch, dass etwas an Homosexualität falsch sein muss: Sie ist nur in Ordnung, weil sich nichts daran ändern lässt. Was biologisch festgelegt und außerdem nicht in Ordnung ist, kann zudem schnell wieder als Krankheit angesehen werden.
Gezielte Abtreibung und Biopolitik
Die Debatte über die Abtreibung als homosexuell diagnostizierter Föten läuft bereits. Die Verteidiger und Verteidigerinnen dieses "Rechts der Eltern auf reproduktive Freiheit" berufen sich dabei auf die gesellschaftliche Diskriminierung, die den homosexuellen Kindern so erspart bleiben würde (Frankfurter Rundschau 17.12.02 S.24). Dass solche vorgeburtliche Auswahl durchaus Realität werden kann, zeigt das Beispiel Indiens. Dort hat sich die Zahl der abgetriebenen weiblichen Föten, seitdem das Geschlecht schon vor der Geburt bestimmt werden kann, so vergrößert, dass heute nur noch 925 neugeborene Mädchen auf 1000 Jungen kommen.
Ich vermute, dass diese Entwicklungen als eine Verschiebung bzw. Ausweitung von Biopolitik vom Staat zu den einzelnen Menschen bedeutet. Hier wird eine in der NS-Zeit vom Staat betriebene Selektion "lebenswerten Lebens" sozusagen individualisiert. Der Staat kann in einzelnen Fällen sogar eine solche Praxis der Einzelnen ablehnen. Trotzdem finden deren Entscheidungen nicht in einem machtfreien Raum statt, denn die Summe der individuellen Entscheidungen zur vorgeburtlichen Auswahl bildet einen wichtigen Teil der modernisierten heterosexistischen und patriarchalen Unterdrückung.
Eine Kritik an diesen Entwicklungen muss das Recht von Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper und damit auf Abtreibung anerkennen und kann sich daher nur gegen gezielte Abtreibung richten.
Linksradikale Kritik an Biologie und Medizin
Ich glaube, dass Biotechnologie "an sich" weder gut noch schlecht ist. Sie kann in Utopien durchaus eine positive Rolle spielen. Marge Piercy zum Beispiel entwirft in "Frau am Abgrund der Zeit" eine feministische Utopie, in der alle Menschen nur noch in Brutkästen zur Welt kommen, ihre Gene von einem Computer anonym zusammengestellt werden und auch Männer sich (zum Stillen) Brüste wachsen lassen können. So macht der biotechnologische Fortschritt es möglich, dass auch die letzten gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen aufgehoben werden können.
Andererseits kommt Biotechnologie in der Realität niemals "an sich" vor, sondern eben immer unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaften.
Solidarität und Objektivität
Der Ausgangspunkt einer Kritik an Humanwissenschaften sollte immer die Solidarität mit den Gruppen sein, die gegen ihre Unterdrückung kämpfen. Aus Solidarität mit der schwarzen Bewegung und dem Feminismus und aufgrund von dem, was Schwule und Lesben sich schon über die Krankheit der Homosexualität anhören mussten, ist eine radikale Ablehnung der Humanwissenschaften gerechtfertigt.
Die Solidarität mit Intersexuellen, Transsexuellen und AIDS-Aktivistlnnen macht die Sache komplizierter. Ich fühle mich mit meinen Überlegungen dazu unsicher, aber ich schreibe sie trotzdem auf, weil ich die besondere Situation dieser Bewegungen nicht ausklammern möchte.
Intersexualität
Die Bewegung der Intersexuellen hat eine radikale Kritik an der Schulmedizin, die ihre Körper grausam verstümmelt hat, um ihnen eindeutige Geschlechter zuweisen zu können. Daneben kann es für Intersexuelle aber auch einen positiven Bezug auf Biologie geben. Manche begründen, dass sie in Wahrheit das andere Geschlecht haben, damit, dass sie als Neugeborenes die
biologischen Anlagen dazu hatten. Andere sagen, dass die Natur eben mehr als nur zwei Geschlechter geschaffen hat. Damit haben sie zwar einen von der Norm abweichenden, aber immerhin einen positiven Bezug auf Biologie. Diese Aussagen passen nicht zu einem vereinfachten queeren Glaubensbekenntnis, nach dem Geschlechter und Sexualitäten ganz fließend und gar nicht durch unseren Körper festgelegt sind. Gerade im Sinne von Queerness müssen sie aber respektiert werden.
Transidentität und Transsexualität
Für Transsexuelle ist die Sache in gewissem Sinne anders herum. Sie wollen sich nicht von ihren biologischen Anlagen auf ihr wahres Geschlecht festlegen lassen. Die Operationen und Hormontherapien, zu denen die Schulmedizin mittlerweile in der Lage ist, können für transsexuelle und transidente Menschen ein Segen sein, da sie darüber selbst die Entscheidung fällen.
Erfahrungsberichte von TransMenschen, dass ihnen Hormone des angestrebten Geschlechts endlich auch die erwünschten geschlechtstypischen Gefühle geben, passen nicht mit einer vollständigen Ablehnung von Theorien über den Zusammenhang von Hormonen und Selbstwahrnehmung zusammen. Es ist wichtig, zwischen solchen positiven und negativen Theorien über Hormone wie derjenigen Dörners zu unterscheiden.
Der Unterschied von Körper und Biologie
Intersexuellen und Transsexuellen geht es gleichermaßen um die Abwehr gesellschaftlicher Vorstellungen über Geschlecht und um ein Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper. Ob es nun darum geht, seinen oder ihren oder was immer Körper zu verändern, oder darum, den eigenen Körper genau so annehmen zu dürfen, wie er auf die Welt gekommen ist - der Begriff Körper kann in diesem Zusammenhang als Gegenentwurf zu einer festlegenden Biologie aufgefasst werden. Bei Körper geht es um Selbstwahrnehmung, Selbsterfindung und Selbstbestimmung, bei Biologie dagegen um gesellschaftliche Zuschreibungen, die in der Sprache der Wissenschaft formuliert sind.
AIDS
Die leider auch für manche linke Queers attraktive AIDS-Leugnung zeigt, wie lebensgefährlich eine undifferenzierte Kritik an den Humanwissenschaften und insbesondere an der Schulmedizin werden kann. Wenn der Zusammenhang zwischen dem HI-Virus und AIDS gar nicht besteht, sondern bloß von einer Verschwörung zwischen der Schulmedizin und den AIDS-Hilfen erfunden wurde, können alle getrost auf Safer Sex verzichten und Positive können ihre Medikamente absetzen.
Auch aus Solidarität mit der emanzipativen AIDS-Bewegung, und aus Respekt vor den Leistungen einer Generation von schwulen Aktivisten, die in den 80ern mit der mit AIDS zusammenhängenden Welle der Schwulenfeindlichkeit und der Krankheit selbst zu kämpfen hatten, darf die Kritik an Schulmedizin nicht die Form einer Verschwörungstheorie annehmen, sie darf nicht zu einer vollständigen Ablehnung werden.
Gute Texte und ein guter Film zum Thema
Michel Foucault, "Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen" (1977, hier wird der Begriff der Biopolitik erfunden)
Fantomas # 2: "Biopolitik. Macht - Leben - Widerstand" (2002, hier wird der Begriff der Biopolitik gut erklärt und in Beziehung gesetzt zu Begriffen wie Multitude und Empire)
Ann Fausto-Sterling, "Gefangene des Geschlechts? Was biologische Theorien über Mann und Frau sagen" (sehr detailliert über die sexistischen Aspekte der biologischen Forschungen über Gene, Hormone usw.; ob wohl von 1985 immer noch brandaktuell)
Robert Alan Brookey, "Reeinventing the Male Homosexual. The Rhetoric and Power of the Gay Gene" (2002, der aktuelle Stand der Forschungen über das schwule Gen und eine differenzierte Kritik daran, insbesondere die Problematik der Wahl und die christ lich-konservativen Anti-Homosexualitäts- Kampagnen in den USA)
The Council for Responsible Genetics, "Do Genes Determine if we are Lesbian, Gay, Bisexual or Straight?" in Girl - Boy / Boy - Girl # 2 (eine kurze Version der Kritik an den Untersuchungen über das schwule Gen
Ulle & Christian, "entweder oder und der rest - transsexualität und transgender", in: things are queer (auch in diskus 3/99)
Oliver Tolmein & Bertram Rotermund, "Das verordnete Geschlecht" (Dokumentarfilm 2001 über Intersexuelle bzw. Zwitter)
Schlechte Texte zum Thema
"Das Treuehormon", in Psychologie heute #7/2002
"Ihre Tochter ist ein Sohn", in: Der Spiegel #45/2002
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