Begehrensströme im Cyberspace -
zwischen Regulation und Subversion

Von CK 5


Seit dem Schliessen der allermeisten Klappen in Berlin ist das Fliessen mann-männlicher Begehrensstöme im öffentlichen Raum am Tage stark beeinträchtigt. So bleibt nur der kommerzielle Ort, um Lüste im Kreisen zwischen Körpern zu vervielfältigen, ohne das Ganze in die feste Form eines "Ichs in Beziehung" giessen zu müssen.

Doch im Internet-Zeitalter ist alles anders, und neben den öffentlichen und den privat-kommerziellen Raum tritt der Cyberspace, jene Mischung aus unendlich vernetzter Kommunikation und globaler Kommerzialisierung. Dieses Medium greift alle möglichen Kommunikationsformen auf, adaptiert und revolutioniert sie. So ergeht es auch der guten alten Kleinanzeige, jener Form der Kontaktaufnahme, an der sich jeder lesend ergötzt(e) und die gleichzeitig als ultima ratio der Verzweifelten galt. Ihr zentraler Nachteil war ihr Zeitaufwand, gerade wenn es um die schnelle "Lust zwischendurch" ging. Doch zwischen Abgabe der Anzeige und ersten Reaktionen vergingen oft Wochen.

Nun braucht es nur noch Sekunden zwischen Schreiben, Abschicken und Bestätigen. Schon weiß die virtuelle Community Berlins, dass beispielsweise "x-berg jetzt - 35/180/75/18,5x5" um 13.43 h allein im Büro ist und gerne einen geblasen bekommen würde; "ohne viel Anlauf pic=pic". Anfragen können unmittelbar an seine einschlägige E-Mail-Adresse gesendet werden, und los geht´s. Diese Art Anzeigen gehen zu jeder Tages- und Nachtzeit im Minutenrhythmus ein.

Hier fliessen Begehrensströme.

Die Lust sprengt sich in den Alltag, zumindest als Versprechen und immerhin etwas realer als eine immaterielle Wichsphantasie. Am Schreibtisch sitzend, anstatt zu arbeiten, schwelgt man im Cyberspace und überlegt, es sich in "Nklln von einem Araberhengst besorgen zu lassen" oder in "Mitte zum Mittagessen ein Gläschen NS zu trinken". An diesem Ort, zugleich überall und nirgends, spritzen die Säfte in Wolken von PP, wird man vollgepumpt und leergesaugt, oder nackte Sklaven lecken einem die Schweißfüsse, selbstverständlich immer jetzt und sofort. Eine unendliche Wunschproduktion und sie scheint bloß ein pic-weg von der Erfüllung zu sein.

Da bleibt sie oftmals auch zurück. Denn mit dem Pic und der Antwortmail ist der Traum meist schon vorbei. Manchmal findet die Lust (oder was so manch einer dafür hält) bereits ihre Befriedigung im eroberten Pic, das man in die Galerie der virtuellen Partner stellt. In anderen Fällen ist es weniger die Frage, ob hübsch oder interessant, sondern die spiessige Entzauberung der Bilder und die Ernüchterung der klischeehaften Sprache wirken wie eine kalte Dusche. Wie auch immer: die virtuell entgrenzten Begehrensströme gerinnen leicht, sobald sie in die Welt des Realitätsprinzips eindringen und an die Wände des narzisstischen Gehäuses namens Ich stossen. Wer sich dennoch einmal auf den Weg zur Fleischwerdung eines Pics macht, fragt sich schnell, was er da eigentlich will, denn selten genug birgt die Begegnung jene entgrenzte Erfahrung, die in der rudimentären E-Mail-Kommunikation nicht schon vor-geschrieben wäre, OV AV TT PP a/P trifft auf OV AV TT PP A/p, sex a la carte.

Der Cyberspace mag bevölkert sein von wilden Phantasien polymorpher Perversionen, es mag eine Kommunikationsplattform sein, die der Wunscherfüllung vielleicht ein Stück näher bringt, aber sie droht gleichzeitig ein weiterer Rückzug ins Private zu werden. Sind Klappe und Park noch Umbesetzungen und Aneignungen des öffentlichen Raumes, sind Kneipendarkroom und Pornokino noch sprachlose oder zumindest spracharme Orte leiblicher Lüste, in denen das Ich verschwinden kann, so steht es für die entgrenzten Begehrensströme des Cyberspace noch aus, Praktiken zu erfinden, deren subversives Potential nicht in die - letztlich lustfeindlichen - Strategien der neoliberalen Bedürfnisbefriedigung zurückgebunden werden.

antaeus chanel: warum meinst du, neoliberale bedürfnisbefriedigung sei "letztlich" lustfeindlich?  
chris: das ganze liest sich irgendwie wie die etuxx-variante der letzten zitty-titelgeschichte "erogene zone berlin": kontaktanzeigen halten nicht, was sie versprechen. wie sollten sie auch. aber das heißt eben auch, dass die sache nicht so trostlos ist, wie sie erscheint.  
Lore: gott, ein wenig differenziert liest sich das schon, chris. z. b. finde ich die these interessant, dass die kontaktzone zunehmend privatisiert, technisiert und kapitalisiert wird und damit die soziale kontrolle zunimmt.  
chris: kann man so sehen, sicher. wenn man einen eher romantischen blick auf die vergangenheit wirft, sollte man sich die gegenwart aber etwas genauer angucken. sonst bleibts bei dem üblichen kulturpessismismus: die lustfeindliche, kalte technik, totale kontrolle, kapitalisierung. zb die mangelnde spracharmut??? die sprachlosigkeit hat sich in anzeigen- und mailgestammel transformiert, und es scheint offenbar vielen zu gelingen, diese kalte dusche wegzustecken. eine frage noch, ck5, ist in dem satz mit ovavttpp nicht ein nicht zu viel? oder ist die ambivalenz absicht?  
Sascha B.: Da ist überhaupt nur ein "nicht" in diesem Satz, und das ist nicht "zuviel" :-) - Was ich in dem Text von CK 5 ein bisschen vermisst habe, ist ein Hinweis auf die "Simulation": Einer elektronischen Kontaktanzeige folgt häufig ein "simulierter" Kontakt per E-Mail. E-Mails, die nichts preisgeben (sollen / dürfen). Der Unterschied zur Briefantwort auf eine Zeitungsannonce ist erheblich. Oft ist, selbst nach längerem elektronischem Kontakt, vom Gegenüber nicht mehr erkennbar als die Oberfläche seines Begehrens.  
Lore: Ich kann den neuen Kontakttechnologien auch viel Gutes abgewinnen. Dialektik ist alles!  
chris: man muss es schließlich verkraften, dass sich das gegenüber im extremfall entweder als alter bekannter oder als fake entpuppt. Simulation? ich habe den eindruck, dass "längerer elektronischer kontakt" in der regel vermieden wird, wenn es nicht dabei bleiben soll.  
pilzi: ... die elektronische Anonymität kann durchaus auch befreiend gesehen werden, sofortige Reaktion jetzt: mit späterer Wirkung. Ich habe mein Comming-Out mit Briefe-in-den-Postkasten-werfen hinter mir. Das geht jetzt schneller. ge-e-mailt = gesagt, was ich mich beim ersten mal (oder nie) beim vis-a-vie trauen würde. Ich behaupte, dass viele 2. und 3. Comming-Outs (SM oder Fummel) per Internet/E-Mail einfacher zu bewerkstelligen sind - und da auch ihren sexuellen Auftrag erfüllen. Auch wenn viel heiße (elektronische) Luft geblasen wird .... .  
Schatzfratz: Die "Entzauberung" findet wohl genauso bezüglich Park, Klappe oder Darkroom statt. Oft genug passiert gar nix, weil sich die Junx entweder dann doch nicht trauen oder Wunsch und Realität auch im krassen Widerspruch stehen. Was im Netz die klischeehafte Sprache ist, übernehmen an den anderen Orten die Klamotten und ritualisiertes Auftreten. Ein Pferdeapfel verwandelt sich eben auch in Goldfolie gepackt nicht in einen Golden Delicious.  
Schatzfratz: Und dem Darkroom-, Park-, oder Klappenfick ist in seiner pseudöffentlichkeit bestimmt nix subversives abzugewinnen.  
Sascha B.: Mir ist ein Pferdeapfel lieber als ein Golden Delicious. Er ist nicht so geruch- und geschmacklos...  
Stjopa: Hurra, Sascha hat jetzt sein zoophiles scat - coming out. Siehste, dazu hast Du dieses virtuelle Forum gebraucht. Ich komm nächsten mit der fetten Katze (pardon Kater) von meinem Mitbewohner vorbei, dann spielen wir bischen ;-)  
Uwe: inzwischen wissen wir zwar alle, dass Sascha quasi die Redaktion ist, weil die anderen RedakteurInnen sind ja eher verhalten und dezent äußern, aber so ein comming out (horse scat) traue ich ihm echt nicht zu. Aber, ich kann mich auch täuschen.  
heinrich: wo hier gerade so viel von scheisse die rede ist, muss ich doch glatt mal wieder klug scheissen: sagt doch bitte "rauskommen" oder "coming out", das fiese denglish ist nicht schön, nein... zum thema: habt ihr, die ihr hier schreibt, denn wirklich erfahrung mit cyberdates? icke nich - und ich stells mir eher so geil vor, wie eine anmeldung bei einer privaten fickparty zwei wochen im voraus...  
Sascha B.: Ich nehme alle meine kulturkonservativen Äusserungen zum Thema Cyberdating bis auf weiteres zurück! Ich hatte nämlich vor kurzem einen 4-1/2-stündigen wunderbaren Chat, und zwar mit Folgen... (übrigens, lieber Stjopa, weder mit einem Pferd noch mit einer Katze :-)  
Sascha B.: @ Uwe: Ich bin wirklich nur 1/6 der Redaktion! Aber allerdings der Einzige, der Amt (Redakteur) und Mandat (Diskutant) nicht richtig auseinander halten kann...  
Fortschrittsinitiative: Per Inserat nach einem Sexualpartner zu suchen müßte in einer fortschrittlichen Gesellschaft gar nicht nötig sein, man müßte auch so jemanden kennenlernen können. Dieses ganze Umständliche zeugt von einer Prüderiegesellschaft! Aber zur Zeit ist das eben noch so, bloß, wie lange denn noch? - Und außerdem, es ist ja kaum was möglich, es wimmelt ja überall von Zensurmaßnahmen.  Fortschritt; Zensur
Klostein: Was ist dann mit dem Video-Chat? (zB. www. ivisit.com ; umsonst zum runterladen und benutzen, Passwort: adultsonly) Gegen das sind wohl Kontaktanzeigen die pure Romantik....  
Sascha B.: Das stimmt. Ich finde ja auch Telefonieren schon altmodisch-romantisch... (Mist, schon wieder eine kulturkonservative Äusserung...)  
Liebe etuxx-Redaktion: Ich begegne der sogenannten "Fortschrittsinitiative" (s.o.)nicht zum ersten mal. Als Satire macht das vielleicht noch Sinn, aber ich schlage Euch vor, die Seiten mal genauer anzusehen (vor allem die Links ganz unten und da z.B. den Teil, der sich gegen Obdachlose richtet) und evtl. den Link zur "Fortschrittsinitiative" zu entfernen.  
Sascha B.: Ich habe mir die Seiten der "Fortschrittsinitiative" genauer angeschaut, finde aber, dass das dort Geschriebene sich derart selbst desavouiert, dass jede "Zensur" schon zuviel der Mühe wäre... Ist schliesslich keine Nazi-HP - also bitte: Gelassenheit...  
chris: so langsam häufen sich ja auch bei etuxx die kontaktanzeigen. wird sich schon jemand finden, der dazu ne seminararbeit schreiben will... wahrscheinlich eher als jemand mit sinn für dessous. eine frage: wo chattet ihr denn eigentlich, wenn ihr chattet?  
Lady Chattlerly: Na hier  
Klostein: Den Chat auf Gaypunk bekam ich nie zum laufen. Da bin ich halt auf den Video-Chat bei iVisit ausgewichen. - Intelektuell sehr mager, aber ab-und-zu mal was fürs Auge. Und wer will sich bei den aktuellen Temeraturen im sumpfigen Park die Schuhsohlen vergebens durchlatschen, wenns fast das Selbe im Netz bei angenehmer Zimmertemperatur zu sehen gibt. Dazu noch ohne schlechten Deodorant und allerlei "Souveniers" von den Trophähen die in den Büschen standen.  
Saschas Empfehlung: Sind wir jetzt hier die "Stiftung Warentest" für elektronische Kommunikation? Na gut. So sei es. Ich empfehle www.gaychat.de - da kann man ein sog. "Profil" anlegen für sich und das "Profil" der anderen Leute anschauen, die gerade im Chat sind. Das hilft manchmal. Ausserdem ist der Umgangston recht freundlich, und zu den garantiert unmöglichsten Zeiten trifft man dort sogar Leute, mit denen man sich intellektuell "beharken" kann. (Frühmorgens um halb sieben, nach durchwachter Nacht, über sprachanalytische Philosophie zu diskutieren - das ist absolut "mein Ding" :-)  
Chatmuffel: Ich chatte gar nicht. Chat erfordert Schlagfertigkeit im schriftlichen Ausdruck und die hat nicht jeder.  
rin: das macht nichts, für uns Langsamdenker und -schreiber gibt's ja etuxx, der thematische Zeitlupen-Chat.