ich bin
die milva der
deutschen literatur


zum 10. Todestag



Ronald M. Schernikau


Das Schwule Museum, Berlin ehrt mit einer Ausstellung (3. Oktober - 18. November 2001) den schwulen Literaten, die schillernde Tuntendiva und den engagierten Kommunisten Ronald M. Schernikau, der 1991 an AIDS starb.


Rede auf dem Schriftstellerkongreß der DDR, 1. bis 3. März 1990
von Ronald M. Schernikau

Meine Damen und Herren,
der Eine weiß das Eine und der Andere das Andere. Ich bin Ronald M. Schernikau, ich komme aus Westberlin, ich bin seit 1. September 1989 DDR-Bürger, ich habe drei Bücher veröffentlicht und ich bin Kommunist.

Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus. Honeckers Versuch, ein guter König zu sein, so klein und mickrig er auch ausfiel, er war der Versuch zu Konsens. Das Faszinierende an dem Terror der Geistlosigkeit unter Honecker war für mich immer das deutliche Gefühl: Wenn die dürften, wie die wollten, wäre das die Versammlung der Klügsten. Nein, mehr: Es ist, durch den Terror hindurch, schon jetzt diese Versammlung.

Weshalb wollte die DDR nicht, dass man sie lobt? Das werde ich niemals verstehen. In den Westbüchern der Dissidenten las ich immer nur das ungeheure Lied auf die Zukunft. Ich verneige mich vor ihnen allen, und es gibt gegen ihre Erfahrung kein Aber.

Aber da war dieser Konsens. Ich vermute, Sie alle haben diesen Konsens unterschätzt. Er war es, von dem Sie lebten. Er hat Ihre Reden so kunstvoll gemacht, Ihre Kinderbücher so lustig, Ihren Blankvers so spannend. Die BRD hat in ihren vierzig Jahren keinen einzigen Blankvers hervorgebracht, keinen einzigen. - Verteidigt werden müssen nicht mehr Sätze, verteidigt werden muss die Fähigkeit zu Blankvers. Es gibt keinen Blankvers ohne Konsens. Warum haben alle mitgemacht? Weil Sozialismus war.

Wer sich von der Fantasielosigkeit seiner Lehrer beeindrucken lässt, ist selber schuld. Wenn die Dummheit der Kommunisten die Leute zu Antikommunisten gemacht hat: dann war sie deren furchtbarster Fehler.

Die Theaterstücke der letzten Phase der DDR beruhten immer darauf, dass der Feind, von dem alle sprachen, ausblieb. Die Kinder kannten den Feind nur als Entschuldigung für das Versagen des Königs. Schließlich glaubten sie nicht mehr an ihn, und die Schauspieler- innen mussten am Schluss auf dem Tisch tanzen. Das war die Antwort: Wenn es keinen guten König gibt, dann wollen wir eben einen schlechten. Weil an allem immer nur der Feind schuld gewesen sein sollte, vergaßen sie, dass er an ihrer Grenze stand, und holten ihn schließlich ins Land. Die Erkenntnis, dass es den Feind wirklich gibt, wird ohne die Zerstörung des Landes nicht mehr zu haben sein.

Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen möglichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreißenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen. Das ist mit Erich Honecker geschehen. Mühsam verkneifen sich die Westzeitungen ein Grinsen, wenn sie die pfiffigen Sofas von Wandlitz präsentieren.

Der Sieg hatte stattgefunden, als die DDR-Zeitungen das Ende der Privilegienherrschaft forderten. Was konnte schon an ihre Stelle treten? Brav forderten die Mitarbeiter der Verlage die Demokratie im Betrieb plus Beteiligung von Westkonzernen. War die Staatsbürgerkunde wirklich so schlecht?

Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts. Was mich verblüfft, ist die vollkommene Wehrlosigkeit, mit der dem Westen Einlass gewährt wird, das einverständige, ganz selbstverständliche Zurückweichen, die Selbstvernichtung der Kommunisten. Ich habe jeglichen Glauben verloren!, das heißt: Ich bin bereit, mich dem Westen vollkommen zu überlassen. Kaum ist Honecker gestürzt, da lösen die Universitäten den Marxismus auf, da wirbt die DEWAG für David Bowie (immerhin), da druckt die FF dabei Horoskope und die Schriftsteller gründen Beratungsstellen für ihre Leser oder gleich eine SPD. Wo haben sie ihre Geschichtsbücher gelassen? Die Kommunisten verschenken ihre Verlage, die ungarische Regierung richtet in ihrem Land einen Radiosender der CIA ein, und der Schriftstellerverband der DDR protestiert gegen die Subventionen, die er vom Staat erhält. Sie sind allesamt verrückt geworden.

Die DDR hat den Beweis erbracht, dass Zeitungsredakteure, wenn man sie nur lässt, nicht klügere Zeitungen machen sondern dümmere. Früher stand in den Zeitungen gar nichts, heute steht das Falsche drin; die Welt handelt absurd, wenn sie uns vor solch furchtbare Wahl stellt, aber wenn ich es muss, wähle ich den ersten Zustand.

Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen. Endlich können wir auch die Erfahrungen der Linken im Westen verwerten!, das heißt: Wir werden sie bitter nötig haben. Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. Wer Bananen essen will, muss Neger verhungern lassen. Wer die Spaltung Europas überwinden will, muss den Westen siegen lassen.

Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark.. Sie haben, statt das gute Geschäft Ihrer schlechten Regierung zu fördern, die Feinde der Regierung ins Land geholt. Sie haben sich einen Kulturminister geben lassen, der schon ein paar grünen Jungs vom Spiegel gegenüber vollkommen hilflos ist, eine widerliche Niederlage.

Die Strategie des Zurückrollens ist aufgegangen. Der Westen hat gesiegt. Er hat gesiegt, weil seine Herrschaftsformen sozialdemokratisch geworden sind. Die spätkapitalistische Ökonomie braucht für ihre Existenz keine Rechtfertigung mehr. Ihre Mechanismen setzen sich durch, ob wir wollen oder nicht. Wie anachronistisch wirkt ein Zentralkomitee gegen die Weltbank, wie einzig sinnvoll aber auch. Schalck-Golodkowski war der letzte Internationalist, sein Ende ist das Ende der Parteibüros im Westen, das Ende der kommunistischen Verlage dort, das Ende des Ortes, an dem ich früher mich befand. Dies ist ein Schmerz, vor dem kalt zu bleiben Sie ein gewisses Recht besitzen; ich will Sie nur auf ihn aufmerksam machen. Es hat westberliner Kreisvorsitzende gegeben, die sich weigerten, ihre Büros zu räumen, die kurz vorm Barrikadenbau standen.

Die Dummheit der Führung nach Honecker hat uns eine Zeit beschert, in der wieder negiert werden darf. In den westberliner Buchhandlungen treffen einander die Verräter.
- Ach du hier.
- Ach du hier.
- Für immer?
- Ja. Du auch? Für immer?
- Ja.
Dann lassen sie verlegen voneinander ab, blättern kurz in einem Buch und verschwinden schnell. Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinander- zusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe? Die Künstler werden alleine sein, langsam begreifen sie es.

Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation.

Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.
Vielen Dank.

Copyright: Nachlass Schernikau

aktueller Veranstaltungshinweis:

24.11.01 21:00

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Roter Salon Buchpremiere (Wiederauflage) DIE TAGE IN L.

Astrid Meyerfeldt, Tatja Seibt, Matthias Frings, Thomas Keck, Viktor Schefé und Georg Uecker stellen die Wiederauflage von Schernikaus Essay über die deutschen Zustände vor; das Schwule Plattencafé legt auf; Felix Klopotek, Tjark Kunstreich, Philipp Steglich und andere sprechen von ihrer Sicht auf Schernikau.



Mach doch mal nen Verbessrungsvorschlag: Die Dummheit der Kommunisten ist kein Argument gegen den Kommunismus. Der bekanntlich am Mangel zugrunde ging. Westimporte ala Schernikau, der immer und unbedingt das Besondere sein musste, konnten den Mangel an Kommunisten nicht ausgleichen. Wie auch. Der Mann war weit entfernt von jeder kollektiven Idee. Und immer DAGEGEN.  
Messe Der Männer Von Gestern: Der Mann war weit entfernt von jeder kollektiven Praxis. Die Idee fand er doch toll. Er hat sie nur nicht verstanden. Deshalb fand er sie ja toll.  
nn: das ist gelogen, oder mindestens: ein irrtum. du kennst schernikaus biografie kaum oder du verstehst sie nicht. aber: wie schernikau als persönliche person gelebt hat, das ist auch relativ egal. er hat geschrieben. und wenn du nun in seinen texten die 'kollektive praxis' nicht siehst, dann allerdings kann dir niemand helfen. (schade, übrigens.)  
Mein grosser Irrtum: Wie Schernikau als persönliche person gelebt hat, ist mir nicht egal. Und da kann mir auch keiner helfen.  
Schriftgelehrter175: Der Exodus in die DDR als ultimative Extravaganza - das ist als These so falsch nicht.  
Leo: Wer Schernikau verstehen will, sollte unbedingt mal seine Mutter erleben. "Ich bin es schließlich, die Ronald der Welt geschenkt hat." Ich hab aus diesem Anlaß mal wieder die Autobiographie von Inge Viett aus dem Regal genommen, einer West-Lesbe, die in die DDR rübergemacht hat. Inzwischen gibt es auch eine ziemlich plumpe Verfilmung davon. Die beiden mal nebeneinanderzuhalten, ergibt einen interessanten Kontrast.  
nn: leo, scheinbar warst du auf der selben ausstellungseröffnung wie ich. oder sagt sie den satz immer wieder? ;-) -- ich finde übrigens wirklich nicht wichtig, schernikau zu verstehen. was von ihm bleibt, sind persönliche erinnerungen derer, die ihn kannten. die können sie untereinander austauschen oder nicht. und was von ihm bleibt, ist seine literatur. die erschließt sich auch menschen, die ihn nicht kannten.  
nn: diese literatur ist ein erlebnis. und neben vielem anderem widerlegt sie die behauptung, er habe keine kollektive praxis gehabt. 'legende' ist selbst kollektive praxis, schon im material (in den worten seines witwers: "er hat uns schöner gemacht"), aber auch in der form: als radikale kritik der gesellschaft. schreiber(in) und leser(in) verbünden sich und bilden den anfang eines kollektivs. anders kann man das wohl nicht lesen. (also ist egal, dass er in seinem privaten leben eine diva war.)  
provinzwessi: für alle, die wie ich nicht die ehre hatten, herrn rms persönlich kennenzulernen, hier ne gelegenheit zum nachholen auf der  fansite
Leo: zu "nn": Sorry, ich finde Deine Haltung widersprüchlich. Gerade wenn mich ein Autor auf einer sehr persönlichen Ebene anspricht, dann kann ich sein Gefühlsleben nicht ausblenden. Das klappt vielleicht bei einem Verfasser technischer Anleitungen, aber nicht bei einem Literaten. -- Um eine Meinung über Schernikaus politischen Gehalt zu haben, habe ich zuwenig gelesen. Hierzu also no comment.  
Sascha B.: @ nn: Den von Leo zitierten Satz sagt Ellen Schernikau tatsächlich immer wieder. Ich war auf mehreren Buchpräsentationen der "Legende"; und es war sozusagen ein einziges "déjà dit". Auch möchte ich Leo ein bisschen beipflichten: Es gibt Autoren, und zu denen zählt für mich Schernikau, deren Werk ich nicht von dem trennen kann, was ich über ihr Leben erfahre. Irgendwann war ich derart "befangen". Da gibt es kaum einen Weg zurück.  
Sascha B.: Ich hätte nichts lieber als das literarische Urteil von jemandem, der die "Kleinstadtnovelle", die "Tage in L.", die "Legende" gelesen hat, ohne dass ihm die Person des Autors "etwas sagte". Aber gibt es so einen Leser / so eine Leserin? Nebenbei: Die "Kleinstadtnovelle" war für mich das zweitwichtigste Buch während meines Coming-Outs (das wichtigste war "Sexualität und Wahrheit I" von Michel Foucault).  
provinzwessi: gibt es, sascha, solche leser. mich nämlich. habe kleinstadtnovelle und tage in l. gelesen, ohne von seinen milva-allüren etc. zu wissen. warum glaubst du, dass man ihn anders liest, wenn man ihn (nicht) kennt???  
MM: "milvallüren"? Da kenn ich auch einige, die milvallüren haben. Gibts Mittel gegen milvallüren?  
Marcie: Auf Seite 2 von Legende steht "Wenn sie das hier lesen, bin ich berühmt". Und in Teil 6/74 steht "die wut die mich nicht im bett bleiben lässt, ist die einzige wut. alles andere ist selbstmitleid, alles andere bin ich" Harsches Urteil eines Autoren, der jedem Leser ins Gesicht gesprungen wäre bei der Behauptung, er sei als Person egal.  
Marcie: Und ausserdem nicht wahr. Wenn Schernikau sich mal zurücknimmt als Person (ganz planvoll übrigens) und anderen Figuren oder Personen Platz einräumt, ist er richtig brilliant, finde ich. Daß einem der Autor dabei nicht egal werden darf ist offensichtlich Teil seiner Konzeption.  
Margot und Erich: Was ist denn so schlimm an den Milva-Allüren? Irgendwelche hat doch jeder, da ist das mit der Milva doch noch ganz erträglich. (PS: die Milva kam auch früher immer mit Ihrem "ALEXANDERPLATZ ... " in den Kessel Buntes ... . Wer auf der Bühne, welcher auch immer steht, braucht ein wenig Abstand ... in die Scheinwerfer singen ... nichts sehen ... Augen und Maul aufreißen. Und nicht die Haare ins Gesicht oder auf den Boden geschaut. Versuche sich zu verstecken im Scheinwerferlicht, im Klappentext oder sonstwo, sind Betrug am Publikum/Leser.  
nn: marcie, die person, von der ich sage, sie sei mir egal, ist tot. ich war auf ein und derselben veranstaltung mit leuten, die schernikau kannten oder zumindest versuchen, ihn gekannt zu haben. ("er kochte schlechte kartoffelsuppe". "und er tat immer würstchen aus der dose rein".) vielleicht bekommt man komplexe, wenn man ein genie kannte. zumal, wenn nur wenige wissen, dass es ein genie war. jedenfalls mochte ich die veranstaltung nicht besonders, aber das hat keinen einfluss darauf, ob + wie ich seine bücher lese.  
nn: m+e, das scheinwerferlicht selbst ist für eine diva das beste versteck und der roman für eine schriftellerin. betrogen bist du nur, wenn du meinst, du könntest einen menschen kennenlernen, während er vor dir auf der bühne steht oder du seine texte liest. -- woher übrigens die zudringlichkeit, alles über jemanden erfahren zu wollen, der nichts über dich erfahren will oder wird?  
Sascha B.: Woher die Zudringlichkeit? Weil das eine Antwort auf die Zudringlichkeit jedes Autors ist, der sich, indem Du sein Buch liest, schliesslich auch in Dein Leben einmischt, oder? Das Interesse an der Person des Autors ist - im besten Fall - nur ein schwacher Abglanz des Einflusses, den er auf Dich längst schon ausgeübt hat, bevor Du ihn (vielleicht) persönlich kennenlernst.  
Lore: Ich lese gerade die tage in l. Da sind schon drollig naive Sätze drin - bei aller Scharfsinnigkeit der Kritik. Aber da, wo er affirmativ sein möchte, tut er der Sache keinen guten Dienst.  
Die dumme Glatze: kann sich "affirmativ" grade noch vorstellen. Das wird sowas sein wie die Konfirmation. Aber was ist "die Sache"? "Denn er wußte um unsere Sache"?  
Sascha B.: Gegenthese zu Lore: - (Ich lese die "Tage in L." auch gerade wieder, Hermann Gremliza sei Dank!) - Da, wo er (Schernikau) KRITISCH IST, tut er "der Sache" naturgemäss keinen guten Dienst! Kann er auch gar nicht! Und das ist gut so! Die gedankliche und moralische Schlichtheit des "Geh´ doch rüber!" haben wir zu recht immer (und mit bis heute gültigen Argumenten) abgelehnt. - Aber ja, was ist: "die Sache"? Ein emanzipatorisches Projekt. Ein Konstrukt. Ein Popanz? Eine Narretei, der verspätete, versteckte Romantiker à la Schernikau aufgesessen sind?  
nn: dummchen, die "sache" ist ein kategorischer imperativ, nämlich -- in der fassung von marx -- etwas umzuwerfen: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!" (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW Bd. 1, S. 384f)  
nn: dieser imperativ steht wohl fest. in frage aber steht, wie geknechtet und verlassen "der mensch" im realen sozialismus war und warum (zum beispiel) schernikau das nicht gesehen hat. ich denke, er ist einer dualen logik auf den leim gegangen, die ihn zwang, zwischen zwei herrschaftsformen zu wählen. die alternative zur einen herrschaft ist die andere aber nur dann, wenn mit ihr ein prozess der selbstvergesellschaftung beginnt, mit dem herrschaft abgeschafft wird. das war im realsoz nicht der fall. der staatsapparat wurde immer stärker, die plandiskussion war eine farce, sämtliche entscheidungen wurden von oben dekretiert, alle wege in diese entscheidungsebene verschlossen sich, etc.  
nn: womöglich hat schernikau auch ans "volkseigentum" geglaubt. wem aber gehörten die produktionsmittel im realsozialismus eigentlich? dem "volk"? wer hatte denn die macht zu entscheiden, was + wie es produziert und wie das mehrprodukt verteilt wurde? diese entscheidungen lagen in der hand einer genau umrissenen sozialen gruppe, einer klasse. (ich rede nicht von einer verschwörung, sondern von einer funktion, die diese klasse in der gesellschaft hatte. das hat mit dem subjektiven wollen ihrer mitglieder nichts zu tun.) zweifellos gehört zum klassenkompromiss zwischen herrschender klasse und arbeiterklasse im realsoz eine breitere verteilung des geschaffenen reichtums als im westlichen fordismus.  
nn: wie fast alle marxistInnen hatte schernikau einen schärferen blick auf den kapitalismus als auf den realsoz. im kapitalismus sind die unmittelbaren sozialen folgen der ausbeutung (hunger, obdachlosigkeit, krieg, etc.) offensichtlich, weil auch der sozialstaatliche kompromiss in den metropolen eine immer noch viel stärkere hierarchie in der verteilung des gesellschaftlichen reichtums erlaubt als der realsozialistische. (im neoliberalismus ist dieser klassenkompromiss ohnehin aufgekündigt worden: was wir seit etwa 15 jahren erleben, ist ein zunehmend schärfer geführter klassenkampf von oben.) dennoch muss, wenn vom realsoz die rede ist, auch über herrschaft und ausbeutung gesprochen werden.  
nn: trotzdem stellt schernikaus kommunistische utopie eine soziale "grammatik" der revolution bereit (wie immer auch diese revolution aussehen wird). soll heißen: sie ermöglicht eine sprache, in der über das geredet werden kann, was von grund auf geändert werden muss, was stattdessen entstehen soll und über die wege dorthin. das geschieht nicht über das ausmalen von bildern einer leuchtenden zukunft, sondern über kritik der gegenwart und -- vor allem -- über die suche nach und schilderung von praxen des neuen, von versuchen anderer vergesellschaftung, die die schon in dieser gegenwart entstehen. (da sind die götter der "legende" ebenso am werk wie leute, die schernikaus literatur diskutieren.)  
Lore: Also Schernikau guckt sich die beiden Systeme an, meint sich entscheiden zu müssen, entscheidet sich für den Realsoz (mit einiger Berechtigung) und ist dann absolut parteiisch. Wie eine überfürsorgliche Mutter lässt er kein gutes Haar an den fremden Kinder und versucht bei den eigenen nur das Gute zu sehen, damit es die Kleinen auch zu was bringen. Das ist erst mal menschlich gar nicht so unsympathisch, aber politisch falsch. Er redet sich die DDR schön, in der Hoffnung, dass sie dann auch wirklich mal so wird. Es ist ihm aber dadurch unmöglich, strukturelle Fehler zu sehen. Bei ihm ist alles Grundsätzliche klar, das Problem liegt nur in der Umsetzung.  
schlaubär: folgerung aus nn: wenn alles umgeworfen wurde, dann ist "die sache" beendet.  
OssiKid: ich muss dich darauf hinweisen, dass die herschende klasse in der ddr per definition die arbeiterklasse war. die entscheidungen in der ddr wurden nicht von einer anderen klasse getroffen, sondern von der "parteiführung" der partei der arbeiterklasse. dies war die elite der elite der elite. aus dieser kubik-elite hat sich, nicht anders als anderswo auf der welt, eine auf macht- und damit privilegien-erhalt ausgerichtete aristokratische hierarchie gebildet...  
Bert the Evil: schlaubär: die umwerfende sache wurde nicht beendet, sondern exekutiert. und das ist auch gut so!  
nn: ossikid, diese "definition" war ideologie, also dazu da, etwas zu verschleiern. ich finde es sinnvoller, von klassen zu reden, als von aristokratischer hierarchie (übrigens ist der adel auch eine klasse). schau mal in deine alten lehrbücher, da liest du ungefähr: klassen sind große menschengruppen, die charakterisiert sind durch ihre stellung im gefüge der materiellen produktion, vor allem zu den produktionsmitteln, durch art der erlangung und größe ihres anteils am produzierten reichtum, ... etc. -- natürlich wurde verkündet, die arbeiterklasse herrsche und die parteispitze sei ihre avantgarde. die frage ist, wer das heute noch glaubt?  
nn: ich finde es sinnvoll, von klassen zu sprechen, damit eben nicht von dummheit oder herschsucht alter männer die rede ist, sondern davon, wie die gesellschaft funktioniert hat. (übrigens, um daraus etwas zu lernen.) wenn wir vom kapitalismus reden, wissen wir doch auch: es ist völlig egal, ob ein konzernchef als person nett oder unsympathisch ist oder ob ein anderer da sitzt, der noch netter oder unsympathischer ist. kapitalismus ist ein system der ausbeutung, eine struktur. -- angewendet auf den realsoz: ob da nun honecker, stoph, ulbricht oder sonstwer an der spitze saß, das ist ziemlich egal. der fehler lag nicht so sehr bei einzelnen leuten, sondern in der struktur der gesellschaft.  
OssiKid: nn, das ist ja schon ganz gut zitiert. nur wirfst du mit deiner definition von herrschender klasse und ihrer stellung zur arbeiterklasse zwei verschiedene dinge durcheinander: die klassen-definition durch lenin und die begriffsbenutzung durch bürgerliche medien.  
OssiKid: nn, "arbeiter-aristokratie", hast du den begriff mal gehört?  
nn: ossikid, der begriff "arbeiteraristokratie" zielt auf die untersuchung eines privilegiensystems, das depolitisierend wirkt (unterschiedliche lohnniveaus, vergabe von sonderleistungen etc. fördern saturiertheit und klassenspaltung und verhindern damit antikapitalistische klassenkämpfe -- ungefähr so die argumentation). der begriff taugt nicht viel zur analyse des realsoz, weil er nicht darauf zielt, wer die politische herrschaft ausübt. übrigens: wenn du nur fragst, welche gruppe wieviel konsumtionsmittel zur verfügung hat, wer also z.b. die größten villen, dicksten autos und das meiste westgeld hatte, dann war die ddr ein staat der schlagersänger und handwerksmeister...  
nn: für eine klassenanalyse ist nicht die konsumsphäre entscheidend, sondern die verfügung über die produktionsmittel. (kann sein, dass sowas auch manchmal in bürgerlichen medien steht -- aber nicht oft und höchstens im freuilleton-teil.) dabei geht es nicht um juristischen besitz ("volkseigentum"), sondern um reale verfügungsgewalt: wer kann über was entscheiden. an wichtigen entscheidungen beteiligt waren: die sed-hierarchie ab kreisleitung aufwärts, inklusive politischer mitarbeiterInnen, staatsapparat von bürgermeisterInnen aufwärts, führungen von parteien und massenorganisationen, leitungen von großen betrieben und kombinaten, aber auch beraterInnen (professorInnen, spezialistInnen etc.)  
nn: die funktionale klassenanalyse (blick auf funktion in der gesellschaft) kannst du soziologisch (blick auf die persönlichen verhältnisse) untersetzen: kinder aus der herrschenden klasse landeten mit hoher wahrscheinlichkeit wieder in dieser klasse, während aufstiege aus anderen (arbeiterInnen, bäuerInnen) ab den 1960ern selten wurden. die klasse reproduzierte sich also über soziale vererbung. -- bemerkenswert ist übrigens, wie sich die klassenstruktur nach ende des realsoz transformierte. in osteuropa gehören die meisten privatisierten betriebe den früheren direktoren. die ex-ddr ist insofern eine ausnahme, als hier die großen betriebe von west-unternehmen übernommen und zerschlagen wurden.  
OssiKid: ich denke schon, der begriff arbeiteraristokratie taugt auch für den realsozialismus. die instrumente der "partei- und staatsführung" gingen ja genau und hierarchisch in alle ebenen. wenn man zum beispiel "zum parteisekretär" bestellt wurde, um wieder "auf linie" gebracht zu werden. und wenn die parteisekretäre wieder parteisekretäre über sich hatten...  
OssiKid: nn, was du tun sollst, ist nicht begriffe aus zwei verschiedenen klassendefinition zum zwecke deiner eigenen "wahrheitsbildung" ideologische ineinanderfummeln. ansonsten wiederspreche ich dir ja gar nicht...  
nn: ossikid, dazu kann ich nicht mehr viel sagen. in meinem verständnis ist das analyse, nicht ideologisches basteln. übrigens ein teil meiner (vorsicht, autoritätshammer:) wissenschaftlichen arbeit. aber lassen wirs dabei, natürlich kann man die ddr nach verschiedenen rastern interpretieren/verstehen.  
Kolja: gesellschaftliche analyse hat immer das problem ideologisch werden zu können, wenn man sich sicher ist recht zu haben...  
nn: aha. -- das heißt: man untersucht am besten garnicht alles, damit ein bisschen unsicherheit bleibt? oder baut man lieber ein paar fehler rein und kann an diesen stellen sicher sein, dass man sich irrt? -- kolja, könntest du vielleicht ein bisschen genauer sagen, was dich stört?  
wiederanschubser: um diese seite nicht einschlafen zu lassen, eine frage: liegt nicht ein großteil der faszination an schernikau darin, dass er eben einfach "rüber ging", zum studium und dann auch später, und liegt die besondere provokation nicht darin, dass er den (in vielem!) beschissenen ddr-alltag zum utopischen freiheitsraum umdeklarierte. schernikau funktiuonierte doch nur in diesem gegensatz. den haben wir nicht mehr. kann er uns dann überhaupt noch "wege in utopia" aufzeigen?? (muss dazu zugeben, dass ich die legende nur bis s.100 geschafft habe ;-)  
Sascha B.: Gegenüber dem DDR-Alltag war Schernikau durchaus auch distanziert und süffisant. Er wusste, dass er ein Romantiker war: "also ich gebe zu, die ddr nervt. die ddr ..., sie nervt. sie nervt. sie nervt tatsächlich. ... vielleicht hat ... jedes volk seinen natürlichen anteil an faschisten. vielleicht muss jedes land einfach auch regiert werden. ... vielleicht ist es einfach romantisch, in einer sozialistischen hierarchie nur den sozialismus zu erwarten und nicht auch die hierarchie." (Aus: "Tage in L.", S.153 f.). Ich kann Schernikau allerdings fast nur historisch und literarisch lesen, politisch kaum.  
Schlesinger Nachfahren: "Mit Leuten, die einem nichts bedeuten, ist leicht fröhlich sein!" nochn Schernikau-Zitat, mit Grüssen ins Tuntenhaus, Zimmer 5674  
Lore: Sascha, so ein statement ist wohl das, was Schernikau am meisten frustrieren würde, was er mit seiner Literatur am wenigsten bezweckt hat.  
Sascha B.: Wenn ich diese Aussage 1989 gemacht hätte, ja, dann hättest Du recht. Allenfalls beim Wiederlesen der "kleinstadtnovelle" könnte ich auch vielleicht heute noch etwas entdecken, das als Hinweis auf eine Lebensalternative und damit auch politisch taugte. But: GDR is gone. Von der DDR bleiben nur Erzählungen, literarische und weniger literarische.  
Bert the Evil: Also schon wenn der Herr nur diese Rede an den Schrifstellerkongreß der DDR geschrieben hätte (aber LEGENDE ist wirklich recht gut), gebührte ihm ein Denkmal in Rosa und Grünspan. Es besagt noch nicht, daß in der DDR alles oder nur vieles gut gewesen sei, wenn ich feststelle, was auch nicht allzu viel besagt: sie war das bessere Deutschland. Eigentlich heißt es nur, daß ich die Vertrauensfrage u.a. vom letzten Freitag beantworte: dieses übrig gebliebene Deutschland ist zum absoluten Kotzen. Es folgt ein längeres Zitat aus "Hyperion"...  
weiterschubser: egal ob jetzt die ddr die bessere "ideologie" oder die bessere "alltagssolidarität" oder sonstwas wirklich hatte, sie war zumindest für schernikau anknüpfungsmöglichkeit für utopisches denken. er sah da etwas, das bei allem ärgerlichen richtig gedacht war oder aufs richtige zielte, entwicklungsfähige, hoffnungsfroh stimmende keime hatte. sie war nicht nur reale (problematische) sytemalternative, sondern hatte real die potenz zu einer wirklichen alternative.  
weiterschubser: und das ist doch das frustrierende für die nachgeborenen hier: die brd hat diese potenz absolut verloren. mit welcher naivität haben wir (öh, ich) hier 1989 noch an die möglichkeit eines "sozial-ökologischen umbaus der industriegesellschaft" glauben wollen. und nun schröder-grün. desillusion pur. aber wo jetzt die potenz für was neues suchen? das meinte ich oben!  
Lore: Na ja, ob die ddr wirklich je die Möglichkeit zu einer wirklichen Alternative gehabt hat, die nicht in einer Kopie der SU-Politik bestand, wage ich ja zu bezweifeln. Die ddr war noch mehr Vasallenstaat als die brd.  
mausebär: jo, man muß schernikau nicht blödsinnig finden, um heute zu wissen, dass die DDR fleisch vom fleische des warenproduzierenden systems war. - wessen produkte sich am weltmarkt messen müssen, der hat eben auch nur die möglichkeit eine wertproduktion zu installieren. mit allem, was dazu gehört: polizei, bürokratie, schulpflicht, armee, arbeit. - weg damit!  
hexameter!!: also wäre es doch innerhalb (zumindest) des (östlichen) warenproduzierenden systems möglich gewesen, blankverse zu schreiben... (schreibt peter hacks heute eigentlich noch blankverse???) und warum sind blankverse eigentlich so paradigmatisch für den zustand einer gesellschaft?????  
p.s.: die dummheit der kommunisten ist vielleicht kein argument gegen den kommunismus. aber die dummheit des kommunismus ist ein argument gegen die kommunisten. mit gruss an mb  
aktueller Veranstaltungshinweis:

24.11.01 21:00 Berlin

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Roter Salon Buchpremiere (Wiederauflage) DIE TAGE IN L.

Astrid Meyerfeldt, Tatja Seibt, Matthias Frings, Thomas Keck, Viktor Schefé und Georg Uecker stellen die Wiederauflage von Schernikaus Essay über die deutschen Zustände vor; das Schwule Plattencafé legt auf; Felix Klopotek, Tjark Kunstreich, Philipp Steglich und andere sprechen von ihrer Sicht auf Schernikau.