Ich rat' euch, SPD zu wählen
*  HERMANN L. GREMLIZA

dieser Artikel ist ein »Nachdruck« ; er erschien in der Juliausgabe 2001 der konkret.

Und der Sieger ist: Simeon II. Die Partei des vor 55 Jahren vertriebenen Zaren hat die Wahl mit 43 Prozent der Stimmen gewonnen. Wenn Wahlen etwas ändern könnten, würde Bulgarien Monarchie. Die Kommentare zum Sieg Seiner Kaiserlichen Hoheit aber waren so kurz wie herzlos. Schuld ist, daß das Amt, das der Sproß des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha errungen hat, sehr jenem ähnelt, das seine Ahnen in ihrem herzoglichen Kleinstaat zwischen 1852 und 1918 bekleiden durften. Simeon, der gewesene Zar, wird werden, was Kwasniewski und Kostunica, die gewesenen Genossen, schon sind: Gouverneur einer euro-deutschen Provinz. Wer in Deutsch-Nordost bis Deutsch-Südost eine andere Rolle spielen und etwa die Deutsche Mark nicht als Landeswährung gelten lassen wollte, landete im Haag, vor dem Tribunal.

So geht Demokratie auf dem Balkan. Wie geht sie anderswo, in Berlin, beispielsweise? Dort wird ein Wahlkampf geführt, von dem es heißt, er gehe um alles. Springers »Bild« hat die »gespenstische Vision« einer »rot-rot-grünen Koalition« und ruft - »Berliner, seid wachsam!« - zur Abwehrschlacht am Spreebogen. Es droht, sagt Helmut Kohl, »ein Unglück«. Nach Berlin scheint eine Zeit zurückgekehrt, in der das Wählen noch geholfen hat.

Es hilft nicht. Gregor I. hätte, wäre er zum Bürgermeister gewählt, was er nicht wird, das gleiche zu tun wie Simeon II.: die Schulden des Staates (in Berlin ca. 90 Milliarden Mark) zu bedienen, die Besitzlosen zu enteignen, staatliches Eigentum zu privatisieren und soziale Rechte den Bedürfnissen des Kapitals anzupassen. In Bulgarien ist den potentiellen Investoren der Durchschnittslohn von 250 Mark zu hoch, die Arbeitszeit zu kurz und die Rente (im Schnitt 85 Mark im Monat) ein Luxus. In Berlin, sagt McKinsey, sei mit »brutalstmöglicher Haushaltssanierung« noch nichts gewonnen. »Die Wirtschaft« will auch die 370.000 städtischen Wohnungen und 400 Millionen Quadratmeter Grundstücke haben.

Man nennt das Reformpolitik, ihr Motto ist: Reichtum muß sich wieder lohnen. Die Koalition von CDU und SPD war damit nicht recht vorangekommen. Zwar waren beide Partner sehr für solche Reformen, wollten aber die »unpopulären Maßnahmen« lieber dem anderen überlassen. Deshalb wurde die Koalition gegangen. Jede neue Regierung, gleich in welcher Kombination, wird die Enteignung exekutieren. Alle Kandidaten wissen das. Sie sprechen sich täglich die »schmerzlichen Einschnitte« vor, die sie »mittragen« wollen. Demokratie in Berlin ist wie Demokratie auf dem Balkan oder sonstwo.

Weshalb man nicht geglaubt hätte, daß es je - und erst nach drei Jahren rotgrüner Reformen und einem Angriffskrieg - noch einmal einen Anlaß geben könnte, an den Gang ins Wahllokal, von den Journalisten des Landes oft in unfreiwilligem Sarkasmus »Gang zur Urne« genannt, einen Gedanken zu verschwenden. Den Anlaß bietet der Kandidat Klaus Wowereit von der SPD mit seiner Erklärung: »Ich bin schwul, und das ist auch gut so.«

Ja, und? hieße die Antwort, wenn die deutsche Gesellschaft wäre, was ihre Festredner von ihr sagen. Und ist sie's nicht? Laufen nicht Minister und Bürgermeister am Christopher Street Day mit? Durften nicht Schlagersänger und Schauspieler ihr Coming out wagen? Sind Schwule und Lesben nicht geradezu in, im Jet Set und in seinen Medien? Ist, was abnorm war, nicht längst stinknormal?

Das war's schon einmal, in den Roaring twenties des letzten Jahrhunderts, in Claire Waldoffs Berlin, wo Hannelore, das schönste Mädchen vom Halleschen Tore, natürlich ein Kerl war. Wer die Zeit und den Ort aus Erich Kästners Fabian kannte, konnte die Heterosexuellen für eine vom Aussterben bedrohte Art halten. Sterben aber mußten, zehn Jahre später, die Homosexuellen. 15.000 von ihnen wurden in KZs ermordet. Wer, gequält und von Ärzten mißhandelt, die NS-Zeit überlebte, wurde von der demokratischen Polizei nach Paragraph 175 Strafgesetzbuch verfolgt. Eine Entschädigung für ihre Leiden haben Homosexuelle bis heute nicht erhalten.

1962 hat die Bundesregierung unter Konrad Adenauer, dem von Kohl, Merkel und vielen anderen bewunderten Vorbild, ein Strafgesetzbuch entworfen, in dessen Begründung es hieß:

Der gleichgeschlechtliche Trieb (ist) nach der weitaus überwiegenden Auffassung der deutschen Bevölkerung als eine verachtenswerte Verirrung anzusehen, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören ... Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte die Folge.

In den Jahren nach 1968, als die Deutschen sich für den Auftritt in der großen weiten Welt fein zu machen begannen, faßten sie den Entschluß, auch im Umgang mit den perversen Volksschädlingen eine gewisse Toleranz zu demonstrieren. Sie schafften 1974 sogar einen Teil des Paragraphen 175 StGB ab, den Rest zwanzig Jahre später.

Wie sie's seither treiben, hat keiner so schön formuliert wie der Erzbischof von Köln, Kardinal Joachim Meisner: »Ich habe immer erklärt«, sagte er jüngst, »daß homosexuellen Menschen mit Respekt und Achtung zu begegnen ist«, doch seien ihre »Verhaltensweisen aus christlicher Sicht unsittlich«. Der Schwule ist ein Schwein. Wer dennoch strebend sich bemüht, ihn zu achten, ist gut. Und hat einiges gut. Wie jeder professionelle Zotenreißer, der besten Gewissens sich seine Quote zusammenschwuchtelt, vom Stefan Raab für den Hauptschulproll bis zum Harald Schmidt für den Gymnasiasten. Das Feuilleton der Bürgerpresse feixt, noch besseren Gewissens, mit. Denn am selben Platz stand gestern eine respektvolle Erinnerung an Klaus Mann.

Klaus Wowereit hat seine Privatsache öffentlich gemacht, weil ihn sonst eine Boulevardzeitung vorgeführt hätte. Wowereits Not nutzte Springers »Bild« zur Notzucht. Die Schlagzeile auf Seite eins traf das Gemüt von zehn Millionen: »Ich bin schwul«. Auf Seite zwei, fünfspaltig, über den Köpfen der ehrwürdig Verheirateten Reuter, Brandt, Albertz, Schütz, Vogel, Weizsäcker, Mommsen und Diepgen, die Oberzeile: »Klaus Wowereit (SPD) will Nachfolger der großen Berliner Bürgermeister werden«, darunter die Schlagzeile: »Ich mache kein Geheimnis aus meiner Sexualität«. Rechts daneben die Kolumne von F. J. Wagner, den sein Verlag Deutschlands beliebtesten Kolumnisten nennt: »Ihre Männerküsse, lieber Klaus, sind so unwichtig wie schön. Ihre politischen Küsse sind furchtbar. Herzlichst Ihr F. J. Wagner.« Schwule ruft man beim Vornamen, ihre Küsse sind Männerküsse. Auf der letzten Seite nennt Katja Keßler, Deutschlands beliebteste Kolumnistin, eine Party, an der auch Homosexuelle teilnahmen, eine »Tunten-Sause«.

Mit stehenden Ovationen haben die Delegierten des Parteitags das Geständnis ihres Kandidaten quittiert. So laut wurde selten in einem dunklen Wald gepfiffen, so dunkel war selten ein Wald. Den Kommentatoren galt es als weiteres Zeichen für die Menschwerdung der Deutschen.

Wowereit ist der erste Kandidat für ein Amt wie dieses, der erklärt hat, homosexuell zu sein. Er hat es nicht freiwillig getan, auch nicht in der Absicht, etwas für die Homosexuellen und also gegen den Schwulenhaß der Gesellschaft zu tun. Er versuchte, die Jäger zu besänftigen: Er mache keine Schwulenpolitik, sondern als Schwuler Politik. Und doch markiert seine Erklärung, die, wäre die Gesellschaft, was zu sein sie vorgibt, ihm wie dem Publikum erspart bliebe, den einzigen nennenswerten Unterschied zwischen den Kandidaten bei der Berliner Wahl. Die Erklärung, nicht der Mann, denn subversiv ist nicht der Homosexuelle - in 90 von 100 Fällen ein schlichter deutscher Spießer -, sondern die Homosexualität. Bei der CDU wäre ein solcher Kandidat nicht möglich gewesen, und bei der PDS erst recht nicht, denn der kleine Mann, dem die Partei dient, ist normal. Den Verzicht der schwulenfeindlichen Sozialisten auf den Sozialismus hat er verschmerzt. Den Verzicht auf die Schwulenfeindschaft würde er nie verzeihen.

Und so gäbe es einen einzigen guten Grund, in Berlin zur Wahl zu gehen: Klaus Wowereit. Wowereit ist kein Sozialist. Aber Gysi ist auch kein Sozialist und nicht einmal schwul. Leider gehört Wowereit einer Partei an, die für das an Jugoslawien verübte Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Kein Grund ist gut genug, ihr je wieder eine Stimme zu geben. Mit der Bitte um Vergebung für den Etikettenschwindel dort oben rat' ich, wie immer und überall, so auch diesmal in Berlin, nicht zu wählen.

zum Thema "Wowereit" bisher auf etuxx erschienen:

konkret
Friedrich Ebert I.: Ach Gott, da sitzen wir und warten auf den Untergang, oder was? Hermann? Aber während wir warten, können wir doch das kleinere Übel W Ä H L E N. Beim Warten setzt Du Dich doch auch in den bequemeren Stuhl. Wahlen verändern nicht gewaltig, aber ein wenig ... . Und es sitzt sich so unbequem auf den harten Stühlen, ich W Ä H L E bequem. Die Krisenabwarter sind mir zu wenige. Am Ende haben eben jene Endzeittheoretiker alles verwunschen, ich bin alt, war auf keiner Loveparade, war nicht wählen oder hab gar niemals den ersten Stein geschmissen.  
Sascha B.: Sehr perfide, Friedrich (ausgerechnet von Dir!). - Was ich nicht verstanden habe: sollen wir jetzt SPD wählen oder doch nicht? Bevor ich das nicht genau weiss, kann ich das auch nicht angreifen...