Memories are made of this....
Erlebnisgastronomie
von Hinten & Unten
Eine Zeitreise von 1982 bis1999, Teil I von III

Hätte es das Tuntenhaus Mainzerstrasse ohne die O-Bar überhaupt gegeben? Die schwule Antifa ohne das Café Anal, etuxx.com ohne die H-Bar? Hier geht es um den Zusammenhang zwischen großzügig eingeschenktem Whisky und politischem Engagement und es wird ein exemplarisch-nostalgischer Blick vor und hinter die Tresen von O-Bar, Café Anal, Forelle Blau, Subversiv, H-Bar und VQ II geworfen.

Frontstadt Westberlin 1982: US-Präsident Ronald Reagan wird erwartet und Innensenator Lummer läßt vorsorglich dafür Kreuzberg abriegeln. Die besetzten Häuser sind nach und nach geräumt worden, die Bewegung ist auf dem Rückzug ins Private; der Martin-Gropius-Bau feiert mit der Zeitgeist-Ausstellung neue und wilde (dabei auch viel schwule) Malerei und in einer aufgelassenen Metzgerei in der Oranienstrasse 168 öffnet im Sommer die O-Bar.

Die Kacheln im ehemaligen Verkaufsraum, die unverputzten Wände und die wenigen, wackeligen Stühle bleiben unverändert bis zur Schließung im September 1993. Obwohl die Einrichtung voll im Neon-Trend der frühen 80iger liegt, hat sie einen ästhetischen Maßstab gesetzt, auf dem sich bis heute Neue-Mitte-Lounges und Hausbesetzer-Bars einigen können. Um Mißverständnissen von vorneherein vorzubeugen: Die O-Bar war nie ein Kollektiv-Betrieb. Die Geschäftsführung lag bis Oktober 1988 in den Händen von einer Lesbe und einem Schwulen. Es gab einen Stundenlohn von 20,- DM und alle waren renten- und sozialversichert (ein Standard, von dem alle hier weiter vorgestellten Projekte aus den 90igern nur träumen konnten). Nach dem Auslaufen des 1. Mietvertrages und der Wiedereröffnung im Juli 1989 lag die Geschäftsführung in der Hand einer Person.

Zeitzeugen erinnern sich aber daran, daß anfangs Beschlüsse betreffend der Arbeit von allen Mitarbeitern demokratisch getragen wurden. Aber gönnen wir uns einen Blick vor den Tresen: Ende der 80iger füllte sich die O-Bar erst weit nach Mitternacht. Der typische schwule Gast trug damals eine weiße oder blaue 501, ein kariertes Hemd mit abgeschnittenen Ärmeln, schwarze Doc Martins und einen gut ausrasierten Flat-Top (auch Homosexuelleneinheitsschnitt genannt). Die typische O-Bar Lesbe hatte dazu noch eine schwarze Lederjacke an. Dazu kam die bekannte Kreuzberger Mischung aus Punks, Transen und Touristen. Das Becks kostete 3,50, die Longdrinks waren 1/2 &1/2 gemischt und die Tequillas die Größten der Stadt. Beim Bullenstress am 1.Mai war die O-Bar Notausgang und in warmen Sommernächten hörte man Nancy Sinatra oder Luciano Pavarotti quer über die Strasse.

Weil das SchwuZ damals nur Samstagnacht offen und das EX fest in heterosexueller Hand war, trank die linksradikale Schwuchtel ihr verdientes Feierabendbier gerne in der O-Bar. Daß deren mit den Jahren ziemlich durchgeknallter Chef mit Skin&Nazi Chic rumflirtete, nahm man gelassen hin. Der Niedergang der O-Bar begann 1990/1991. Die Technohuschen trafen sich im Drama (einer Kneipe im Haus daneben), die Linken zogen ein paar Straßen weiter in das im Februar 1990 eröffnete Café Anal in der Muskauer 15.

Im Gegensatz zur O-Bar war das Café Anal ein Nonprofit-Kollektiv mit Polit-Anspruch. Vorfinanziert mit linken Krediten, verstanden sie sich als Antwort radikaler Tunten auf zwangsautonome Hegemonie. Juristisch als Gesellschaft Bürgerlichen Rechts geführt, bestand die Gründungsgruppe aus ca. 10 Leuten. Man einigte sich auf einen Einheitslohn von 12,50 DM die Stunde und im wöchentlichen Plenum ging es um Fragen von "Wie koche ich Milchkaffee" bis zur Endlosdiskussion um das Für und Wieder einer Duldung heterosexueller Handlungen im Café.

Gebenefizt wurde was das Zeug hält und Montagnacht hatten Schwanzträger keine Chance auf Einlaß; einem Umstand, der weitreichende Folgen haben sollte. Das Café Anal war in der ersten Hälfte der 90iger das Kiez-Wohnzimmer für alle Abweichler vom schwulen Mainstream und gleichzeitig das niedrigschwellige Angebot für linke Heten mit Coming-Out Hemmungen. Stilbildend auch das Interieur: Nachwende-Tuntenbarock vom Feinsten, Springbrunnen, Plüschvorhänge, Plastik-Trash aus den umliegenden, türkischen In- und Exportläden. Das Highlight der Anfangsjahre war die legendäre Arschtapete, die später einer der zahlreichen, gruppendynamischen Renovierungen zum Opfer fiel. (die etuxx-Deko-Abteilung griff das Motiv wieder auf)

Musikalisch irgendwo zwischen Hardcore und Schlager liegend, bestachen die hinter der Bar eingelegten Mix-Cassetten besonders durch Rauschen und trugen Arbeitstitel wie "Bomben auf Monte Carlo". Den Service, also das Preis/Leistungsverhältnis, beschreibt einer der Gründungsmitglieder "als abhängig von der Tages- bzw. Lebensform derjenigen Tresenschlampe, die gerade Schicht hatte". Themenabende folgten auf Fummelshows. Von Wahlen zur Weinkönigin, wahlweise zum Arsch des Jahres, finnischen Nächten und Leere-Bierflaschen-Contests; "nichts war dem Café Anal zu peinlich", wie das oben zitierte Gründungsmitglied ergänzt. Unvergessen auch die Lesevormittage aus Hildegard Knefs "Geschenkten Gaul". Straßen- und Kinderfeste, Homoblöcke auf Maidemos und die maßgebliche Beteiligung am 1. Internationalen CSD 1993, gehörten genauso wie die Koordination eines schwulen Überfalltelefons zu den nicht abreißenden Außen-Aktivitäten.

Wie in vielen Gruppen verbreitet, litt auch das Analkolektiv unter der ständigen Fluktuation seiner Aktivisten. Als 1995 die letzten Gründungsmitglieder ins SO36 wechselten, dauerte es kein Jahr mehr, bis das Café Anal im August 1996 endgültig dicht machte. Hier noch ein Blick ins Tresenbuch

Lesen Sie in der nächsten Folge von Muttis Zeitreise, 2.Teil, über die glorreichen Jahre Ostberliner Abenteuergastronomie nach 1989. Nur hier im Internet. Exklusiv auf etuxx.

-- von Mutti

hier gehts ins Innere des Cafe anal
Capt. Iglo: Fischstäbchen für alle  
Stammgast A: Die Tapete passt diesmal ausnahmsweise NICHT. Ihr wart nie im Anal oder Euer optisches Gedächtnis lässt gründlich nach. Armer Stefan.  
Sascha B.: Ich finde den Ansatz, Bars als eine Bedingung von Politik darzustellen, hervorragend. Genau das hat mich auch davon überzeugt, bei der "Rattenbar" mitzumachen, deren Kollektiv ursprünglich mal eine politische Gruppe gründen wollte... First things first: Erst kommt das Saufen, dann die Politik (oder wie?)!  
Urania Urinowa: Wieder ein sehr interessanter Artikel mit dem Markenzeichen "Mutti". Denn: "Wo Mutti drauf steht, ist auch Mutti drin."  
Mutti: Lieber Stammgast A! Du must wohl erst nach 92/93 Stammgast des Anal geworden sein. Vorher gab es sehrwohl die Arschtapete. Es waren zwar gelbe Popos auf schwarzem Hintergrund, aber diese farbliche Neuinterpretation darf man der etuxx Deko-Abteilung nun wirklich nicht übelnehmen. PS: Falls irgendwer Fotos o.ä. von der O-bar hat, bitte bei der etuxx Redaktion melden.  
CP: ...Hilfe, wir werden alt !!!  
heinrich: liebe mutti, auch wenn du das vielleicht so gar nicht beabsichtigt hast und wenn's vielleicht auch gar nicht produktiv für irgendeine diskussion ist, vor lauter bewegt-nostalgisch-café-analer rückbesinnung glitt doch glatt ein tränchen über meine wangen... war das schön, seinerzeit im wohnzimmer!  
WH: Ach, auch ich weine. Produktiv versteht sich. Dennoch: Es war auch gut, als es zu Ende war. Ich erinnere, das A. (und drum herum!)war für viele produktive Menschen die glücklichste und die unglücklichte private Angelegenheit in jener Zeit, die längst vergangen ist. Alles war politisch. Das war gut. Aber das Private hat nur noch genervt zum Schluß.  Wolframs Seite
Stammgast A: Ja, liebe Mutti, aber die Arschtapete sah anders aus. Aber ich will nicht kleinlich sein, sondern auch lieber nostalgisch...  
Mutti: Hört auf zu heulen. Die nächste Folge wird noch sentimentaler.  
WH: Liebe Mutti, war das Drama wirklich nur ein Haus weit von der O-Bar entfernt? Jedenfalls fand ich den Weg dorthin immer ziemlich anstrengend.  
Lady Jane: Irgendwie habe ich das Gefühl, das Thema hier interessiert nur Schwulis über 35 mit politischer Sozialisation.  
stjopa: nein, ich bin unter 35.  
WH: 43 und unduldsam gegen dämliche Bemerkungen! Wenn Dich das Thema nicht interessiert, oder Du Dich zu jung fühlst, habe doch die Größe und halte einfach den Mund.  
mademoiselle technique: ich kenn jemand, der einmal einen zimmermannhammer in den tresen des café anal geschlagen hat, nur weil er ein bier am frauen- & lesbenabend trinken wollte...  
neugierige jugend: kennst du den immer noch?  
Anschaffen took my party away: Führt nicht eine direkte Linie von der O-Bar auch bis ins SO36? Wenn, dann habe ich jetzt das Ende der Linie gesehen: Männer, die Bierbüchsen schwingend auf dem Podest Techno mitgröhlten. Jedes unkommerzielle Projekt hätte sich an dieser Stelle den Gnadenschuss gegeben. Aber wir brauchen doch alle Brot. Mutti, zeig uns, wie wir zwischen Nostalgie und Neoliberalismus durchschlüpfen können.  
Mutti: Nö da kann ich kein Licht sehen. wir gehen alle Kompromisse eingehen. Mein derzeitiger Broterwerb ist dir wahrscheinlich auch geläufig...  
Autor: Ob ich den Zweiten Teil bis nächste Woche hinbekomme, weiß ich nicht. Es interessiert sowieso doch nicht soviele. Nicht wirklich beleidigt, aber geht doch zur Punker-Diskussion und tobt Euch aus.  
Muttis bester: Schnell! Alle Mutti tätscheln! Prima gemacht, Mutti. So gut, daß es nicht mehr dazu zu sagen gibt. Machs nochmal, Mutti.  
Stjopa: ja bitte Mutti, auch für alle die nicht dabei waren damals. Die punker und pseudopunker und gegenpunker undsoweiter sind doch so doof. Bitte wieder etwas spannendes von mutti!  
tante raissa: genau. hör mal, meine liebe, wenn ich gefragt werde, kann ich doch nicht immer sagen: "na, da fragst du besser deine mutti." -- mama kisch, du kennst den spruch doch noch: schreib das auf, genosse!  
schlaubergerin: mutti, weil du hier von der punker-diskussion geschrieben hast, sie sei ja eine alternative zu deiner geschichtsschreibung, wurde dort am 19.7. NICHT EINE EINZIGE bemerkung gemacht. begreif das als eine 24stündige schweigeminute, als verbalen hungerstreik, damit du hier weitermachst.  
Mutti:: Ich streike doch garnicht. Und beleidigt bin ich auch nicht. Ich will nur bald in Urlaub und weiß nicht ob ich vorher noch die Muße&Leidenschaft zum texten finde. Wer spendiert mir 2 gute Flaschen euphorisierenden Rotwein dafür?  
butzi: der rotwein kann - nach anmeldung - im nest abgeholt werden, daran soll es nicht scheitern.  
Sascha B.: Das nennt man: Autorenpflege! Ich bin mir nicht sicher, was wirksamer ist: Lob, moralische Appelle oder zwei Flaschen Rotwein. Mutti hat so einen sympathischen Widerspruchsgeist: lobt man sie, sagt sie: "Mein Text war scheisse!", appelliert man an ihr Gewissen, fühlt sie sich erpresst, gibt man ihr Alkohol aus... (alea iacta est).