Tuntenhaus Bülowstrasse

Berlin in den 80gern
Wann schaffen es Tunten schon mal frühmorgens aufzustehen? Dies gelang am 12. Februar 1981 gleich fünf Tunten, aber sie setzten sogar noch einen drauf: Sie schlugen (nach mehreren Versuchen) gekonnt ein Parterrefenster ein und stiegen in das zweite Hinterhaus der Bülowstrasse 55 in Berlin-Schöneberg. Noch heute rezitieren alle angehenden Tunten mit leuchtenden Augen dieses denkwürdige Datum, an dem das erste Tuntenhaus besetzt wurde. In keiner anderen Stadt war vorher das Konzept eines besetzten Hauses nur für Schwule so konsequent umgesetzt worden.

Tuntenhaus in der Bülowstrasse

Nach aufwändiger Instandbesetzung wohnten dort etwa 15 bis 20 schwule "Burschen, Tunten, Spontis" (Rosa Flieder Nr.45, Febr./März 1986), meist bildungsprivilegierte Studenten die gerade ihr Coming-Out hinter sich hatten, sowie je ein Hetero und eine Hetera zunächst mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad. Bald wurde das Haus in drei Etagen-WGs mit je einer Küche aufgeteilt, in denen "das Alltagsleben wie in einer ganz normalen WG"(Torso Nr.1, Mai/Juni 1982) organisiert war mit "Putz-, Koch- und Einkaufsplan"(Torso). Die erste Etage war Treffpunkt der schwulen Schülergruppe und wurde zudem von Touristen aus Westdeutschland, die niemand kannte, als eine Art Jugendherberge betrachtet. "Die hübschesten Besucher behielt man auch gleich da, um die Verluste von abgesprungenen Hausbewohnern aufzufüllen."(Rosa Flieder) Holla! Als Verwunderlich ist in Bezug auf die Bewohner zu vermelden, dass dort schwule Bhagwan-Jünger und ein Jungdemokrat (die Jungdemokraten waren damals die Nachwuchsorganisation der FDP) wohnten!

Polizeirazzien im Haus und Räumungsangst waren wohl mit ein Grund dafür, dass sich 1982 die Bewohner stärker nach außen orientierten. So wurden in mehreren Schwulen-Zeitungen Artikel über das Tuntenhaus veröffentlicht und Teile des WDR-Schwulenfilms "Anderssein" von Rudi Finkler wurden im Haus gedreht. Das "Treffen Berliner Schwulengruppen" traf sich monatlich im Haus und verabschiedete eine Solidaritätserklärung, der Prinz Eisenherz-Buchladen und Rosa von Praunheim übernahmen Patenschaften für das Tuntenhaus. Das erste Tuntenhaus hatte also eine deutliche Verankerung in dem bewegten Teil der damaligen Schwulenszene.

Da wohl viele eine dauerhafte Perspektive suchten, z.B. eine Absicherung der Situation durch Mietverträge, diese aber dank Innensenator und Rechtsaußen Heinrich Lummer sehr unrealistisch erschien, ging die Motivation der Bewohner mehr und mehr bergab. Als dann Ende 1982 der innerhäusliche Klau überhand nahm und die Solidarität untereinander sich auflöste, eskalierte die Situation: Küchen und Wohnräume wurden verrammelt. Das Jahr 1983 war ausgefüllt mit dem Warten auf die Räumung und die letzten "Veteranen" verließen das sinkende Schiff. Endpunkt war dann im Dezember die Räumung und der anschließende Abriss.

von Urania Urinowa